When will they ever learn?

HelgaP

von HelgaP

Story

Mit Wehmut verabschieden wir uns von der strahlenden Sonne oben am Berg und wandern wieder hinunter in das Nebelmeer des Tales. Der aufgeweichte Boden des Waldweges hängt sich schwer an unsere Wanderschuhe, die erst wieder leichter werden, als wir die asphaltierte Straße erreichen und die Lehmklumpen als Spuren unseren zurückgelegten Weg verzieren.

Das Schild mit der Aufschrift “Russischer Friedhof“ taucht an der Weggabelung auf und da ich noch nie dort war, wollen wir ihn nun auf dem Rückweg besichtigen. Der Nebel hüllt die Landschaft in eine mystische Atmosphäre. Es scheinen die Farben und auch die Geräusche gedämpft und passen stimmungsmäßig gut zu dem Besuch einer Erinnerungsstätte.

Meine Schwester öffnet das niedrige schmiede-eiserne Tor und wir treten auf den Friedhof. Es gibt nur wenige erhaltene Einzelgräber. Die meiste Fläche ist grasbedeckt. Steinerne Erinnerungssäulen ragen aus dem Boden und sind von Kies umgeben. Wir gehen langsam über den Friedhof. Laut Gedenktafel ruhen hier ungefähr 900 ruthenische Flüchtlinge, die im Ersten Weltkrieg aus der Ukraine flohen und in dem Barackenlager in unserer Bezirksstadt zwar Unterkunft, doch was Hygiene und Versorgung betraf, betrübliche Bedingungen vorfanden. Die Lebensmittelbeschaffung für über 7000 Personen war in den Kriegszeiten für die Lagerleitung kaum durchführbar. Sehr viele der damals Verstorbenen waren Frauen und Kinder, die durch Typhus, Cholera oder Lungenentzündung ums Leben kamen. Am Foto auf der Gedenktafel schaue ich auf die traurigen, ernsten Kindergesichter, die da in die Kamera starrten und denke an meine Enkel.

Der westliche Teil des Friedhofs ist die letzte Ruhestätte für Opfer des Zweiten Weltkrieges. Hauptsächlich liegen hier russische Soldaten, die als Kriegsgefangene schrecklichen Zuständen ausgesetzt waren. Die „Genfer Konvention“ galt für sie nicht und die unmenschlichen Haftbedingungen überlebten viele nicht sehr lange. Die Namen von 350 der russischen Soldaten sind in Gedenksteine gemeißelt, die in einem Halbkreis aufgestellt sind. Die kleinen Buchstaben jedes Namens – hinter jedem ein Leben, ein Schicksal, eine trauernde Familie. Es überläuft mich kalt.

Ukrainische und russische Leben – oder vielmehr die Überreste davon – liegen hier Seite an Seite, ausgelöscht durch unsinnige Beschlüsse von machtgierigen Männern, die zu schrecklichen Kriegen führten.

Bedrückt und nachdenklich setzen wir unseren Rückweg fort. Bei meiner Schwester zu Hause angekommen, tut es gut, im Warmen zu sitzen, etwas zu essen und ein Gläschen miteinander zu trinken. Wir plaudern und lachen und die traurige Stimmung vom Besuch des Friedhofs verschwindet.

Als ich irgendwann aufstehe und durch die Küche gehe, fällt mein Blick auf die Tageszeitung, die am Tisch liegt.

Eine Schlagzeile lautet: „Ukraine: 800 russische Soldaten an einem Tag getötet”

© HelgaP 2023-01-06

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