Beim Schreiben fällt mir ein Besuch im Atelier ein.
Das Atelier am Rande der Nürnberger Altstadt war lichtdurchflutet und in jeder Ecke und Nische standen und lagen auf Tischen und Regalen Kunstwerke und handwerkliche Kostbarkeiten. Der Bildhauer hatte sich an Miniaturen versucht und neben halbfertigen Büsten standen Kopien klassischer Statuen wie die bekannte Augustusdarstellung und Studien des menschlichen Körpers im Raum. Eine Reihe von Händenfasziniertemich dabei besonders, da man sich sofort zu den modellierten Fingern eine dazugehörige Person vorstellen konnte.
Außerdem befanden sich ein paar Fässer im Raum und Wilhelm öffnete sie, um uns sein Arbeitsmaterial zu zeigen. Es gab groben und feinkörnigen Ton, es gab herrlich ziegelroten wie betongrauen und mancher fühlte sich wie glitschiger Schlick an und anderer wie ungebundene Erde voller Steine. „Ton ist nicht gleich Ton und es eignet sich nicht jeder für alles. Vor allem ist es wichtig, ihn immer wieder zu kneten.“ erklärte er und ließ den roten Ton durch seine Hände gleiten als würde er sich selbst massieren. „Bereits beim Kneten merke ich, ob er sich dafür eignet, was ich gestalten möchte. Und erst dann kann die Idee Gestalt annehmen. Denn es reicht ja nicht, >nach der Natur< zu formen, wie es manche Naturalisten so meinten und sich fälschlich in der Tradition der antiken Meister fühlten. Es wären ja nur Kopien der Realität! Und eine Kopie ist geistlos. Kopisten sind keine Künstler! Geist und Form muss sich finden, das Abbild des Materiellen mit dem ihn erfüllenden Geist.“ Nun hatte sich Wilhelm, den wir meistens eher als ruhigen und bisweilen schweigsamen Zeitgenossen kannten, allmählich in Begeisterung geredet und versuchte, uns bei seinen Kunstbetrachtungen mitzunehmen. Aber nur wenige folgten. Der Blick unserer Besuchergruppe wandte sich eher den naheliegenden Dingen zu und die Fragen erschöpften sich in Banalitäten – wer seine Auftraggeber so wären, wie viel der Ton und schließlich eine Skulptur kosten würde und wie lange er an einem Kunstwerk arbeiten würde.
Nachdem er zuvor mit bebender Stimme ausgeführt hatte, wie sehr er im Abbild und der Darstellung einer Frau das ewig Weibliche und die ihr innewohnende wie auf-strahlende Schönheit finden wollte, antwortete er nun mit abnehmender Stimme und verschwindender Begeisterung. Schließlich ging es zum Buffet und während die Besucher zwischen zahlreichen Skulpturen ihre Häppchen aßen und immer lauter redeten, wurde Wilhelm immer leiser und stand schweigsam und verloren in seinem Atelier. Und das abendliche Licht ließ im weiterhin durchfluteten Atelier die Figuren längere Schatten werfen.
Schreiben ist vergleichbar: Natürlich haben wirviele Vorbilder und kennen wie antike Statuen auch Formulierungen, Vergleiche und miteinander verwobene Metaphern und doch gilt es, Worte und Begriffe neu zu kneten, abzuwägen, um keine Geschichten zu erzählen, die sich in Kopien erschöpfen.
© Siegfried Grillmeyer 2022-09-04