von Semira Ali
Ich sitz schon in der Straßenbahn. Gibt’s das? Ich bin so durch den Wind. Ich kann mich kaum mehr beruhigen. Es ist unglaublich aufregend. Was tu ich eigentlich hier? Vielleicht sollte ich doch umdrehen? Nein! Jetzt habe ich mich schon entschieden. Ich will auch gar nicht mehr hierbleiben. Ich muss weg. Nichts macht Sinn außer das. Das hat schon immer Sinn gemacht. Das war schon immer der Ort, an den ich wollte. Der Ort, an dem die Freiheit grenzenlos ist und ich mich für nichts rechtfertigen muss. Das ist meine Geschichte und hier kann alles passieren, was ich mir schon immer erträumt habe. Ich brauche keine anderen Bücher oder Filme mehr. Jetzt bin ich an der Reihe meine eigene Geschichte zu leben und sie nicht nur zu schreiben. Wo muss ich überhaupt hin? Schon wieder vollkommen in Gedanken verloren. Das Gleiche passiert mir auch immer an den Tagen, an denen es mir nicht gut geht. Ich weiß dennoch, dass ich etwas essen muss, also gehe ich auch an diesen Tagen einkaufen. Schrecklich! Da irre ich auch immer die ganze Zeit im Geschäft umher und hoffe irgendwie auf ein Zeichen, warum ich überhaupt hier bin. Schön wäre es manchmal schon, wenn mich jemand an der Hand nehmen und mit mir alles erledigen würde. Denken kann so anstrengend sein, besonders an den Tagen, an denen ich einfach gerne wen hätte, der mich in den Arm nimmt und sagt: „Es wird alles wieder gut. Mach dir keine Sorgen.“So etwas wie einen Wegweiser also. Jemand, der mich immer versteht und meine Sorgen nicht nur mit mir teilt, sondern mir Wege zeigt, wie ich sie bewältigen kann. Das wäre großartig.Na ja, jetzt stehe ich hier bei der Landstraße und hab keine Ahnung, in welche Richtung ich muss. Ach, ich wollte eigentlich zum Flughafen. Traue ich mich das überhaupt noch? Oder tut’s auch eine Zugfahrt ans Land? Aber dann bin ich ja doch wieder da, wo ich im letzten Moment immer hin fliehe: bei meiner Mama. Sie kann leider auch nichts ändern. Niemand kann etwas daran ändern, deshalb will ich ja auch weg. Ich mache es einfach! Ich mache nie einfach etwas. Ich denke immer nach bis es nichts mehr gibt über das irgendein Mensch noch nachdenken könnte. Ich nehme allen ihre Ideen weg, weil ich die Dinge viel zu sehr überdenke. Das erinnert mich an die Momente, in denen ich jemanden neuen kennenlerne. Ja, ich meine einen Mann. Ich stelle mir dann immer gleich vor, dass wir heiraten, fünf Babys machen, einen supersüßen Dackel adoptieren und ein Haus am Land kaufen. Dann denke ich darüber nach, dass ich sowieso kein Geld habe, er vermutlich auch nicht und am Ende meldet er sich nicht einmal mehr, weshalb all das Nachdenken um meine wundervolle Zukunft schon wieder vorbei ist und mir viel mehr Energie geraubt hat als ich für so etwas Banales überhaupt übrighabe.
© Semira Ali 2021-03-06