Wie du kalt wurdest

Espe

von Espe

Story

Du warst – bist – eigentlich ein warmer Mensch, da bin ich mir ganz sicher. Du bist liebenswert so wie du bist und bräuchtest dich eigentlich gar nicht zu verstellen. Du bräuchtest weder um Bestätigung von verschiedenen Menschen zu betteln noch deinen eigenen Wert anzweifeln. Eigentlich. Vielleicht habe ich mich damals auch nicht oft genug gefragt, warum du dich so verhältst, warum du nicht einfach glücklich und zufrieden sein kannst, mit mir, und vor allem mit uns. Vielleicht hätte ich mir auch mehr Mühe geben müssen, dich zu verstehen. Aber das hätte nichts geändert.

Es klingt immer so salopp, wenn man sagt: „Das liegt an den Traumata aus deiner Kindheit“. Doch ganz oft ist es psychologisch gesehen leider so. Wie hättest du auch eine gute Bindungsfähigkeit erlernen sollen, wenn du ständig umziehen musstest? Wie hättest du lernen sollen, anderen Menschen voll und ganz zu vertrauen, wenn dein eigener Vater dich ständig im Stich gelassen hat? Wie hättest du verstehen können, dass du so liebenswert bist, wie du bist, und man dich gerne bei sich hat, wenn deine Mutter dich für die ersten Jahre deines Lebens in die Obhut deiner Großeltern geschickt hat? Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber ich habe leider viel zu spät verstanden, was deine Vergangenheit für unsere Zukunft bedeutet hat. Wir haben zwar oft über unsere Kindheit gesprochen, aber ich habe damals die Muster noch nicht erkannt, die ich jetzt besser zu verstehen glaube. Du hast immer versucht, dich um dich selbst zu sorgen, weil es sonst niemand gut genug getan hat. Du hast dich nie darauf verlassen, dass jemand immer bei dir bleibt und deshalb innere Schutzmechanismen entwickelt, um andere Menschen von dir wegzustoßen, wenn sie dir zu nahe kamen. Du hast vor langer, langer Zeit – wahrscheinlich unbewusst – beschlossen, dass du dich nie jemandem ganz öffnen wirst und du hast Übung darin gefunden, deine Gefühle regelmäßig zu verdrängen. Ich habe dich in zehn Jahren nur einmal weinen sehen, und nur einmal weinen gehört. In einem unserer letzten Gespräche hast du mir unter Tränen am Telefon gesagt, dass ich doch immer noch deine beste Freundin sei.

Einerseits fühle ich mich schuldig, dich jetzt im Stich zu lassen. Aber du hast dich mehr als einmal bewusst gegen mich entschieden – mit Folgen. Ich habe dir alles mitgegeben, was ich an Rat für deine neue Situation hatte. Ich habe dir versucht einzubläuen, dass du dich mit deiner Vergangenheit auseinandersetzen musst, damit dein Sohn nicht die gleichen toxischen Schutzstrategien entwickelt wie du. Aber um mich selbst zu schützen, darf ich nicht zulassen, dass die Wunden wieder aufreißen, die du hinterlassen hast. Ich weiß, dass du dir für deine neue Familie Mühe geben wirst. Ich weiß, dass du alles tun wirst, um ein besserer Vater zu werden als dein eigener. Und immer, wenn ich noch an dich denke, sende ich dir in Gedanken Liebe und Zuversicht aus der Ferne und hoffe, dass die Wärme eines Tages zu dir zurückkommt.

© Espe 2022-09-11

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