Wie eine ausgepresste Zitrone

Kemal Kulaksız

von Kemal Kulaksız

Story

Die Kragenränder und Achseln färbten sich dunkel. Ich zupfte am Hemd und ließ Luft zwischen Haut und Stoff. Schleifend hielt der Zug an, die Türen sprangen auf und erbrachen die Fahrgäste. Wie aufgescheuchte Hühner liefen alle über die Fläche.

„Stehe beim McDonald’s“, textete mir Lea.

Ich reckte und streckte den Hals, versuchte sie über die Köpfe hinweg zu erspähen. Die verschwommenen Gesichter sahen alle gleich aus. Hätte ich nur meine Brille nicht beim Umsteigen verloren. Ich kämpfte mich durch das Dickicht an Menschen, stolperte über mehrere fremde Koffer und fand mich völlig außer Puste vor Lea wieder. Ihre Haare funkelten unter dem Licht des großen Ms. Unsere Körper versteiften sich.

„Wartest du schon lange?“

„Ich war zu früh hier.“ Wir schwiegen einige Minuten. „Deine Sachen sind gestern angekommen. Wir haben sie schon in die Wohnung getragen. Wollen wir laufen? Ich kann dir die Stadt zeigen, sie hat sich sehr verändert.“ Ich nickte und wartete darauf, dass sie voranging.

„Vater?“

„Ja?“

„…“

Lea war gegangen. Ich saß mit einem Glas Eistee vor dem Fenster und starrte zum goldenen Himmel empor. Auf meinem Schoß schnurrte Bastet. Sie erinnerte mich an rohes Hühnerfilet. In ihren Ohren schimmerte dunkelgelber Schmalz. Weit hinter den Dächern erstreckte sich ein Park, dessen Duft auf den Winden segelte. Die letzten Sonnenstrahlen waren am Verglühen und Insekten versuchten, durch das Fensternetz einzudringen, gaben auf und flogen zum nächsten Fenster.

Dreißig Silvesternächte waren vergangen, seit ich nach Wien gegangen war. Warum Wien? Keine Ahnung. Vielleicht, weil Vater Wien nicht mochte und ich ihn nicht mochte. Alles, was er nicht mochte, liebte ich. Ich schmunzelte, als ich an meine ersten Jahre in Wien zurückdachte.

Tagsüber arbeitete ich in einem kleinen Labor und stellte pulverförmige Präparate her. Wie ein Schleier legte sich das Pulver beim Mischen über Haar und Haut. Es klebte und stank. Nachts war ich Telefonist bei einer verruchten Agentur und vermittelte Begleiterinnen für „alles Mögliche“. Der Querschnitt der Gesellschaft, der sich mir durch die Agentur bot, widerte mich zutiefst an. Und dazwischen studierte ich. Ich war ein passabler Student.

Mein ganzes Berufsleben hatte ich mich um die Probleme meiner Patienten und Patientinnen gekümmert. Ich liebte meine Arbeit, keine Frage, aber durch sie verdrängte ich meine eigenen Probleme, bis sie mich verzehrten und wie eine ausgepresste Zitrone zurückließen.

Die Mikrowelle fiepte. Bastets nackte Haut legte sich in Falten und sie sprang von meinem Schoß.

© Kemal Kulaksız 2021-05-30

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