Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer und ich freute mich daher ganz besonders, dass mich Linda einlud zu ihren Eltern und damit hinausführte aus der stickigen Millionenstadt unweit von Peking. Der Kaplan hatte uns mitgenommen und ermahnte uns nachdrücklich, abends wieder pünktlich beim Treffpunkt zu sein. Weitere Instruktionen ergingen auf Chinesisch an meine Gastschwester und auf meine Rückfrage meinte sie nur lachend, er hat mir aufgetragen auf Dich aufzupassen, damit Du keine Dummheiten machst.
Wir waren innerhalb kurzer Zeit aus dem 21. Jhd. in das ländliche 19. Jhd. zurückgekehrt. Hühner liefen quer durch das Dorf, vor einzelnen Häusern trockneten frische Erdnüsse und Mais. Hier und dort sah man kleine Schweineställe und außerhalb der Häuser Latrinen, die sich – ganz in geteilter Lebenswelt von Mensch und Tier – neben dem Misthaufen befanden.
Linda passte nicht so ganz in diese Welt. In ihren Jeans und dem Hello Kitty Shirt kam sie mir vor wie eine Zeitreisende. Das verstärkte sich, als wir in das Haus der Eltern eintraten. Denn die beiden schüchtern dreinblickenden Alten hätten die Großeltern sein können. Ihre Gesichter waren von der unbarmherzigen Sonne gezeichnet. Man spürte beim Händedruck, wie sehr sie körperliche Arbeit gewohnt waren und sie steckten in recht groben Leinengewänder. Aber sie schenkten mir vom ersten Moment an ein Lächeln und verbreiteten das angenehme Gefühl, willkommen zu sein. Auch wenn uns nichts anderes verband als die Zugehörigkeit zur selben Religionsgemeinschaft, fühlte ich mich wie unter Freunden. In der ärmlichen Hütte war alles für mich vorbereitet: zur Feier des Tages gab es Hühnchen und viele kleine Leckereien mit Gemüse und köstlichen Nüssen. Und als Besonderheit hatte man sogar Bier kaltgestellt. Der Vater saß gegenüber und sprach direkt zu mir, während die Tochter im Dreieckswinkel bei uns am Tisch war und ins Englische übersetzte.
Außer dem unerschöpflichen Wohlwollen war ein vertiefter Austausch allerdings schwierig und wir beide spürten schmerzhaft, dass wir gern intensiver ins Gespräch kommen würden, als uns das Fehlen einer gemeinsamen Sprache erlaubte. Nachdem auch die zweite Flasche Tsingtao geleert war, wurde es kurz unbehaglich, denn die guten Gastgeber waren peinlich berührt, kein weiteres Bier mehr zu haben. Linda kam auf den rettenden Gedanken, ersatzweise Schnaps anzubieten, der irgendwie aus oder mit der Ginsengwurzel hergestellt wurde. Davon gab es mehrere Flaschen und auch mein Gegenüber sprach dem scharfen, etwas trüben Getränk reichlich zu. Dezent alkoholisiert fragte er mich schließlich, ob ich denn als Ministrant auch lateinisch gelernt hätte. Ich versuchte mich und antwortete „Loquimur lingua latina“. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und wir unterhielten uns in der alten Sprache. Nun, so empfanden wir es zumindest in dieser Nacht, könnten wir uns endlich austauschen und wir verstanden uns hervorragend.
Irgendwann war auch der Ginseng geleert und Linda erinnerte mich, pünktlich aufzubrechen. Zur Verabschiedung umarmte mich der chinesische Dorfbewohner wie einen alten Freund. „Vale, Amici“ sagten wir zueinander und hatten das Gefühl, wenigstens einen Chinesen bzw. einen Europäer verstanden zu haben.
© Siegfried Grillmeyer 2023-05-06