von Michaela Schmitz
Meine Mutter saß in der Morgensonne und las Zeitung. Sie wirkte so ruhig, etwas zerbrechlich und sehr entspannt. Die letzte Nacht hatten wir viel geredet – auch über ihr Ende und ihr Begräbnis. Sie wusste, sie musste ihrem Vater Bescheid geben. Durch ihren Halbbruder gab es eine gute Verbindung, doch die tatsächliche Wahrheit über ihren Gesundheitszustand wollte sie ihrem Vater selbst mitteilen – und schob es einen Tag nach dem anderen auf. Mein Großvater war über 80 Jahre alt, ein sehr zufriedener, ausgeglichener und bescheidener Mensch. Ich hatte nur den einem Großvater und ich liebte ihn. Er war immer ruhig, meist besonnen und liebevoll. Das Gezeter meiner Stiefgroßmutter ging ihm oft beim einen Ohr rein und beim anderen wieder raus (i muss ned allas, wos sie sogt, imma hern …) – er liebte die Ruhe, seine ungarische Salami (er war Ungar), sein Kartenspiel und seine Zigaretten. Mein Großvater wuzelte sich seine Zigaretten selbst – abgezählt für den Tag. Er war ein Genussraucher.
Meine Mutter hatte immer wieder mit ihrem Vater telefoniert, ihm mitgeteilt, dass es ihr manchmal nicht so gut ginge, aber in Summe sei sie froh gestimmt, dass alles Gute werde und sie ihn bald besuchen könnte. So hielt sie ihn von einem zum anderen Telefonat hin, ohne ihm die Wahrheit zu sagen. Ich denke, mein Opa wusste, was Sache war – wollte es aber nicht aussprechen. Meine Mutter wand sich von einem Tag zum anderen – so kannte ich sie nicht. Ich fragte sie: ‚Wie lange willst Du Opa noch hinhalten?‘ ‚Ich weiß es nicht – ich habe nicht die Kraft, ihm zu sagen, dass ich sterben werde. Aber ich weiß, er hat ein Recht darauf, zu wissen, was mit mir los ist.‘ sagte sie mit leiser Stimme. ‚Er weiß, was mit Dir los ist. Aber er braucht Deine Bestätigung. Sprich‘ mit ihm, bitte!‘ sagte ich zu ihr. ‚Na gut, dann telefonieren wir jetzt‘ sagte meine Mutter. So war sie – in einem Moment verzagt und zerbrechlich – im nächsten stark und zielgerichtet.
Es fällt mir heute noch schwer, über dieses letzte Telefonat zwischen Tochter und Vater zu berichten. Die Unausweichlichkeit des Todes, des Verlustes war zu schmerzlich spürbar. Mein Opa sagte: ‚Ich muss gehen, ich bin alt, ich will sterben – ich will nicht meiner Tochter nachschauen, das ist nicht gerecht!‘ Er war so verzweifelt, so wütend und so entsetzt. Und meine Mutter weinte und weinte und weinte … endlose Trauer. Sie wollte ihrem Vater kein Leid zufügen und musste ihn doch mit der Wahrheit ihres Todes konfrontieren.
Nie werde ich diese Szene am Telefon im Vorzimmer unseres Wohnhauses in Breitenfurt vergessen. Es fühlt sich heute so an, als wäre es gestern gewesen – und nicht vor 35 Jahren.
Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache: Lungenversagen durch Lungenkrebs
© Michaela Schmitz 2020-05-25