Wiedergefühlt I

Desiree Schrenk

von Desiree Schrenk

Story


Durch das Fenster sah ich dem Regen zu, der die Straßen schwemmte. Das Laub in seinen schillernden Farben wirkte fast surreal in der sonst grauen Szenerie. Massige Wolken reihten sich dicht an dicht, der Wind ruhte und ließ den Regen Regen sein. Ich blickte mich um. Kerzen, deren Wachs auf die Kommode lief, die alte Schreibtischlampe meiner Großmutter, die durch ihren Lampenschirm im Tiffany-Stil ein buntes Muster an die Wand warf, meine dickbauchige Tasse, gefüllt mit Pfefferminzblättern aus dem Garten und heißem Wasser – mein Zimmer, warm und urig mit all den Büchern, die sich krumm auf dem Boden stapelten, stand in einem solchen Kontrast zu der breiigen farblosen Masse, die draußen vor sich hinsiechte. Selbst das Laub, so schön anzusehen, war lebloses Blatt, das sich in die Tristesse des Vergehens einreihte. Ich zuckte zusammen. Mit seinem schrillen Ton riss mich das Telefon aus meinen Gedanken. Eine bekannte Stimme erklang aus dem kalten Hörer.

„Ich bin gleich da”, sagte er. Er war ein Freund. Mehr als das eigentlich. Aus einstiger Leidenschaft entwuchs Liebe und aus einstiger Liebe entwuchs eine innige Freundschaft. An frühere Zeiten vergeudete ich kaum noch Gedanken; zu schön waren die neuen Erinnerungen, die wir sammelten. Wir sahen uns oft. Manchmal durch Zufall, da bloß ein Stück des Stadtwalds zwischen uns lag und wie groß war die Freude, sahen wir uns mal unverhofft. Manchmal geplant, um unsere Abende mit Wein zu begießen und mit hitzigen Diskussionen zu zelebrieren. Manchmal auch, damit ich mit seiner Tochter spielen konnte, die mir sehr ans Herz gewachsen war und die ich bis heute zu meinen liebsten Freunden zähle. Heute war es ein geplanter Abend, wollte er mir einen Pullover bringen, den ich letztes Mal bei ihm vergaß und dieses Anliegen ließ sich gut mit einem Glas Wein verbinden – wie so oft.

„Okay”, nickte ich dem Telefonhörer entgegen und legte auf. Er wird sicher durchnässt sein, dachte ich und ging ins Badezimmer, um ein Handtuch bereitzulegen. Aufräumen musste ich nicht. Er wusste, wie es bei mir aussah, kannte es aus der gemeinsamen Wohnung und was sollte ich sagen, Freundschaften mussten etwas Unordnung aushalten. Das war das Schöne an ihnen. Ohne sich beweisen zu müssen, ohne sich zu profilieren, ohne den anderen begeistern zu müssen, ließen Freundschaften Freunde einfach Freunde sein. Das Platonische zwischen uns wusste ich besonders zu schätzen. Wir waren füreinander da, ganz ohne Erwartungen.

Es schellte und er brachte ein Stück der grauen Masse von draußen mit hinein. An seinen Schuhen klebte Dreck, der sich durchtränkt zusammenkrümmte und aus seinen Haaren quoll das Nass wie aus einer Bergquelle. „Hier”, reichte ich ihm das Handtuch, um sich zu trocknen. Er lächelte und schüttelte sich wie ein Hund, fuhr sich mit dem Handtuch durch das Haar. Dann gab er mir das Handtuch zurück und unsere Hände berührten sich. Nein, nur unsere Finger – sein Ringfinger strich an meinem.

Tausend Blitze fuhren von seiner Haut auf meine und von meiner Haut auf seine. Ich wollte zurückzucken, doch stand wie gelähmt.

© Desiree Schrenk 2023-11-07

Genres
Anthologien
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend