Wiedersehen – Tobi

AnetteHall

von AnetteHall

Story

Zwanzig Minuten sehe ich Izzy schon beim Schlafen zu. Ihre weißen Haare liegen verstreut auf dem Kissen. Sie ist schon angezogen, hat sich nur kurz nochmal hingelegt. Die Kinder sind bei Freunden, also schmeißen wir den Laden heute allein. Wir wohnen immer noch in derselben Stadt, aber ich kann nicht an Paulas Haus vorbeifahren oder an der Gasse vorbeigehen, ohne daran zu denken, was vor fünfundzwanzig Jahren passiert ist. Vielleicht ist es paranoid zu glauben, dass man jemandem immer zweimal begegnet. Ich weiß nicht einmal, ob ich es will oder nicht. Was ich dann tun würde, weiß ich jedenfalls nicht.

„Schatz, steh auf. Lass uns fahren.“

Izzy beschwert sich nie, wenn ich sie wecke. Sie grunzt nicht oder schlägt nach mir. Sie steht auf, kämmt sich kurz die Haare und steigt mit mir in den Wagen. Wir fahren den gewohnten Umweg und schweigen meistens zur selben Zeit, wenn wir an Paula denken. Obwohl wir es uns gegenseitig ausreden, gibt sich jeder von uns die Schuld. Erst als ich unsere Bar aufschließe, redet sie wieder mit mir. Gemeinsam stellen wir die Stühle an die Tische.

„Thomas hat eine Zwei in Mathe, hab ich dir das schon erzählt?“

Ja, hat sie, aber meint sie dieselbe Zwei?

„Klasse. Emma lässt sich jetzt endlich auf die Nachhilfe ein.“

„Gut.“

Manche fragen sich vielleicht, wieso wir geheiratet haben, aber ich bin mir ziemlich sicher, es war, damit wir unsere Beziehung nicht aufgeben. Es gab eine Zeit, da hatte ich Angst, sie zu verlieren, aber inzwischen weiß ich, dass wir so aufeinander eingespielt sind, dass wir uns nie trennen werden. Wir brauchen einander – und wir lieben unsere Kinder.

Eine Stunde später wird es langsam voll. Viele bekannte Gesichter, aber wie jeden Abend auch einige Fremde. Nichts Ungewöhnliches. Es ist laut, aber die meisten sind gut drauf, spielen Dart oder reden über ihren Tag. Izzy räumt den Geschirrspüler ein und ich schenke die Getränke aus. Sie ist nicht gesprächig. Bei ihr würden die Leute gegen eine Wand reden. Sie redet seit Paulas Tod kaum noch mit jemandem außer ihrer Familie. Ich weiß nicht genau wieso. Wir sprechen nicht über Paula. Nie.

Als es auf halb eins zugeht, hat Emma zweimal wegen ihrer Nachhilfe angerufen, Thomas sich dazu entschieden, bei Nico zu schlafen und Izzy noch seit drei Stunden kein Wort gesagt. Eigentlich ist sie Steuerberaterin, aber sie hilft mir hier immer aus. Es ist alles normal. Bis der Typ reinkommt, der drei Straßen weiter meine ehemalige beste Freundin vergewaltigt und geschwängert hat, weswegen sie sich wenige Wochen später in der Badewanne die Pulsadern aufschnitt, wo meine Frau sie dann gefunden hat.

Izzy erkennt ihn erst nach mir. Ich merke es, weil das Glas, das sie fallen lässt, vor ihren Füßen zerspringt. Er setzt sich an die Bar, weil er nicht weiß, wer wir sind und weil er keine Ahnung hat, was er damit für einen Fehler macht. Ich packe Izzy und zerre sie mit mir in die Vorratskammer, bevor ich mich vergesse.

© AnetteHall 2022-04-09