Wien ist anders

Lorenz Graf

von Lorenz Graf

Story

Es hat vielversprechend begonnen und es schien, als seien alle monetären Sorgen zur Finanzierung meines neuen Lebens als Student gelöst. Ich bekam eine Stelle als Erzieher in einem Heim der Stadt Wien. Die Bezahlung war sehr gut und die Arbeitszeiten so, dass daneben ein Studium möglich war. Ich hatte an der Uni Pädagogik, Philosophie und Psychologie inskribiert.

Die Tätigkeit im Heim mit den Kindern fiel mir nicht schwer, schließlich hatte ich schon viele Jahre Erfahrung mit Kindern aller Altersstufen in einer großen Jugendorganisation gewonnen.

Doch Wien ist anders. Bald merkte ich, dass hier Kinder gequält und sogar geschlagen wurden. All das konnte ich mir bisher nicht einmal vorstellen. Meine Sorgen darüber wurden nicht einmal ignoriert, weder von den Kollegen noch von der Heimleitung und schon gar nicht von der Politik im Rathaus. Ich war ja nur ein „Springer“, der nicht einmal eine eigene Gruppe hatte und noch dazu jung und neu. „Was glaubt der eigentlich, wer er ist!“

Ich schwieg und hielt noch eine Zeit lang durch. Zum einen brauchte ich das Geld, zum anderen wurde mir in Aussicht gestellt, dass ich später in die Chefetage dieser Einrichtungen der Stadt aufsteigen kann. Dazu bräuchte ich nur ein Jus-Studium zu absolvieren, das ginge nebenbei ganz gut.

Doch dann passierten zwei Dinge. Ich bekam privat Besuch von einem Herrn im Anzug. Ich soll Parteimitglied werden. Ich hatte mit Politik damals nichts am Hut, kannte mich auch wenig aus. Politisch festlegen wollte ich mich nicht, noch nicht. Ich war noch auf der Suche, wohin ich gehören soll.

Es folgte eine „Belehrung“: „Wenn Ihnen im Heim strafbares passiert, stehen Sie vor dem Richter. Sind Sie aber bei der Partei, geschieht Ihnen nichts Schlimmes. Sie werden auf einen anderen Posten versetzt, mit höherem Gehalt natürlich.“ Ich unterschrieb nicht.

Dann folgte das zweite Ereignis. Ich wurde in die Direktion zitiert. Dort erwartete mich der Anstaltsleiter, ein Vertreter der Gemeinde Wien und die „Heimmutter“, die mir bisher nur als schreckliche „Furie“, denn als „Mutter“ aufgefallen ist.

„Es liegt skandalöses Verhalten von Ihnen vor“, begann der Direktor und ich kannte ihm an, dass ihm die Sache unangenehm war. Er war ja bisher immer voll des Lobes mit meiner Arbeit. Was ist da Geschehen? Dann prasselten die Vorwürfe der „Heimmutter“ auf mich nieder: Ich untergrabe die Autorität der Erzieher, stelle mich auf die niedrige Stufe der Zöglinge, tolle mit ihnen herum. Das gehört sich nicht für eine Respektsperson, und, und…

Was habe ich getan? Ich habe mehrmals im Hof mit den Kindern beim Fußball mitgespielt und mir mit einigen sogar Tischtennis-Kämpfe geliefert. Ein unwürdiges Verhalten für einen Erzieher der Stadt Wien!

Ich ließ den Job sausen und wechselte im Studium zu den Naturwissenschaften.

Bin in Wien ich auch gescheitert, habe ich dafür in der Provinz viel gewonnen, was sich im Nachhinein als Glück erwies.

Wien ist anders, mit eigenem Demokratieverständnis!

© Lorenz Graf 2020-12-26

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