Wien kennenlernen

Josef Peneder

von Josef Peneder

Story

Nicht, dass man den Kindern vom Land gutes Benehmen erst beibringen müsste, das haben sie doch noch von zuhause mitbekommen; man muss sie nur daran erinnern, Gebrauch davon zu machen, zumal in Wien, wo wir, drei Lehrpersonen und zwei Hauptschulklassen, fünfunddreißig 13- bis 14-jährige Knaben und Mädchen, eine Woche verbringen sollten.

Im Zuge der Aktion „Österreichs Jugend lernt ihre Bundeshauptstadt kennen“ hatten wir in den ersten Tagen bereits zwei Museen, zwei Kirchen, das Planetarium mit Prater sowie den ORF besucht.

Alles war bisher zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen, lediglich in den Museen zeigte sich bei manchen Kindern eine tiefgreifende Müdigkeit, wohl hervorgerufen durch vorhergegangene nächtliche Umtriebe im Heim, weshalb die Museumswärter gelegentlich einen halbkomatösen Teenager von einem Stuhl verscheuchten mit der Bemerkung, auf diesem dürften ausschließlich Museumsbedienstete einnicken.

Wir waren auch ausgiebig mit der U-Bahn gefahren und befanden uns jetzt auf dem Weg zur Donauinsel.

Die Mentalität der Wiener Bevölkerung, die idiomatischen Eigenheiten, vorzugsweise im Zustand heftiger Erregung, hatten wir mit großer Begeisterung zuvor schon im Deutschunterricht besprochen, und zwar anhand von Texten von Ernst Kein, Roda Roda oder H. C. Artmann, gesprochen von Helmut Qualtinger oder Otto Schenk. Allerdings hatten wir bisher noch keine Gelegenheit gehabt, sprachliche Entgleisungen realiter zu erleben – das sollte sich nun ändern.

Wir marschierten in lockerer Formation über die Brücke, neben uns, durch eine mehr oder weniger verblasste Linie abgetrennt, ein Radweg.

In der Ferne näherte sich langsam ein Radfahrer. Es war ein älterer Mann, nicht sehr groß, Hut, dunkle Jacke, guter Ernährungszustand. Im Näherkommen erkannte man ein vergrämtes Gesicht, faltig, grau, die Mundwinkel tief nach unten gezogen.

Ein Schüler nun, ganz vorne, sah sich veranlasst, die hinter ihm Gehenden zu warnen, da diese, in Gespräche und Albernheiten vertieft, zum Teil die Trennlinie zum Radweg überschritten. Er rief also, sich umdrehend und mit den Armen winkend: „Achtung, ein Radfahrer!“

Es war dies eine durchaus achtbare Handlung, von Umsicht und Verantwortungsbewusstsein getragen.

Der Radfahrer, nun auf unserer Höhe, starrte auf den winkenden Knaben, den ganzen Missmut seiner eigenen ungeliebten Existenz im Gesichtsausdruck, und rief in einem Tonfall, den ein Qualtinger nicht besser hinbekommen hätte: „Geh scheißen, depperter Bua!“

Niemand erwiderte etwas. Stumm blickten wir dem Radfahrer nach. Dann setzten wir zufrieden unseren Weg fort. Wir hatten Wien kennengelernt!

© Josef Peneder 2022-01-16

Genres
Romane & Erzählungen, Reise
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