von Frau_Antje
„Wieso, weshalb, warum…?, seit Tagen hören meine Kinder das Lied der SesamstraĂe und singen lauthals und fröhlich lachend mit.
„Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt bleibt dumm“.
Ich frage, bekomme aber keine Antworten. „Wieso du?“, „Weshalb darfst du deine Kinder nicht aufgewachsen sehen“, „Warum schon jetzt?“ Seit einem Jahr stellen wir beide uns diese Fragen. Jeden einzelnen Tag, immer wieder. DreiĂig Jahre lang waren wir einander wie die Schwester, die wir beide nie hatten. Unsere Freundschaft begann auf einer Alm im Schweinestall, kleine, fĂŒnf Jahre alte MĂ€dchen. DreiĂig Jahre lang innig verbunden, durch dich habe ich meinen Mann kennengelernt, du warst meine Trauzeugin. Ich bin mit dir durch sĂ€mtliche Höhen und Tiefen deiner Beziehungen gegangen, bis auch du den richtigen Mann an deiner Seite gefunden hattest. Du hast dich mit mir gefreut, als meine Kinder geboren wurden. Ich war an deiner Seite, als auch du das Wunder eines neugeborenen Kindes erleben durftest. Und plötzlich, kurz nach der Geburt deines zweiten Kindes, bleibt die Welt kurz stehen, fĂŒr dich…. aber auch fĂŒr mich. Du hast Krebs, er hat schon gestreut… Die Ărzte sprechen aus, was wir nicht hören wollen. Wir sind dennoch voller Hoffnung, voller Zuversicht, voller Tatendrang, wir packen beide an. Du konzentrierst dich auf deine Therapien, deine Operationen, bĂŒndelst und aktivierst sĂ€mtliche KrĂ€fte. Ich bin an deiner Seite, begleite dich zu Therapien, kĂŒmmere mich um dich und deine Kinder. Wir haben doch beide noch so viel vor in unserem Leben, wir haben doch gerade erst selbst neues Leben geschenkt. Wir wissen beide, dass der Tod in unserem Leben irgendwann kommen wird, aber nicht, dass er so schnell kommt. Heute hat dein Mann mich angerufen. Es ist soweit. Ich soll mich beeilen. Jetzt sitze ich neben dir an deinem Krankenhausbett. Dein Mann ist mit meinen Kindern drauĂen auf dem Krankenhausspielplatz. Deine Zeit wird knapp. Auf deinem kahlen Kopf glĂ€nzen kleine SchweiĂperlen, du liegst zur Seite geneigt, aus deinem Mund lĂ€uft ein feiner Speichelfaden auf ein untergelegtes Handtuch. Dein Gesicht ist entspannt, aber gezeichnet von diesem anstrengenden, krĂ€ftezehrenden Jahr. Deine Augen sind geschlossen, du bist schon weit weg. Ob du spĂŒrst, dass ich bei dir bin? So, wie ich das ganze letzte Jahr bei dir war? Deine Hand halte, deine Wangen streichle? Dein Atem ist unregelmĂ€Ăig und röchelnd. Ich fĂŒrchte, es könnte jeden Moment dein letzter sein. Ich muss dich gleich zurĂŒcklassen, dich deinen Weg gehen lassen. Mein Leben muss und wird weitergehen, nun aber ohne dich. Meine Kinder freuen sich darauf, gleich ein Eis mit mir essen zu gehen. Das habe ich ihnen auf der Fahrt zu dir ins Krankenhaus versprochen. Wie soll ich das nur schaffen? Wie eng können Freude und Trauer beeinander sein? Ein letzter Kuss auf deine Stirn, ein letzter Blick durch meine trĂ€nenverschleierten Augen.
In dieser Nacht um 2 Uhr werde ich wach und kann lange Zeit nicht wieder einschlafen. In dieser Nacht um 2 Uhr hast du deinen letzten Atemzug getan. Der Krebs hat dir nicht die Chance gegeben 34 Jahre alt zu werden
© Frau_Antje 2025-01-20