von Nadja Neubauer
Ich war ein Kind, das gefangen war in dieser Welt aus Platten und Beton. Anders als der Kanarienvogel der Opernsängerin sehnte ich mich nach der Freiheit. Ob ich wirklich gefangen war, weiß ich nicht. Rückblickend betrachtet hatten mir meine Eltern so viele Freiheiten gegeben, wie ihnen möglich gewesen war. Trotzdem hatte ich stets einen unbändigen Drang nach Freiheit und noch mehr Freiheit gehabt. Wie fühlte sich dieser Drang an? Ich kann es nicht sagen. Vielleicht war es das Gefühl, zu ersticken, keine Luft zu bekommen, jedenfalls nicht genug, um wirklich frei atmen zu können. Vielleicht war es auch das Gefühl, die eigene Brust könnte den Herzschlag nicht halten beim Anblick des Himmels über den Baumwipfeln. Jedenfalls sehnte ich mich stets nach einer Freiheit, die weit über die Betonwände von Häuserblock d hinausreichte.
Ich hatte der Opernsängerin beim Einfangen ihres Vogels geholfen, doch insgeheim hatte ich gehofft, mehr für mich als für den Vogel, dass er wegfliegen würde. Für mich wäre es die Bestätigung meines Freiheitsdrangs gewesen. Wenn der Vogel seinen Käfig verließ, konnte ich das auch. Doch der Vogel wollte nicht. Lag ich falsch? Bedeutete meine Sehnsucht nach Größerem den Verrat an meiner bescheidenen Welt, in die ich hineingeboren war? Bedeutete meine Freiheitsliebe einen Verrat an meinen Eltern, die den Absprung wie viele andere hier nicht schafften?
Ich dachte oft an den Mann aus dem ersten Stock. Ob er sich auch nach mehr Freiheit gesehnt hatte? War ihm seine Welt auch zu klein vorgekommen? Hatte er deshalb seine Arme ausgebreitet und war gesprungen? Nein. Irrsinnige Gedanken. Der Mann hatte nicht den Weg in eine größere Freiheit gesucht, sondern den Tod. Sollte mir sein Tod deshalb gleichgültig sein, weil ich ihn nicht kannte? Auch das muss ich verneinen. Sein Tod ging mir nahe, gerade weil ich ihn nicht kannte und mich fragte, ob man ihm hätte helfen können, hätte man gewusst, wie es um ihn stand. Mit „man“ meinte ich mich, doch wollte ich mir die Verantwortung für den Suizid eines Menschen, den ich nicht kannte, nicht zuschreiben. Viele hätten ihn kennen können. Wahrscheinlich wollte er nicht gekannt werden und hatte den Kontakt bewusst gemieden.
So redete ich mir meine Welt zurecht, als ich vor der Tür im ersten Stock stand und den Kater betrachtete, der auf der Fußmatte saß und kläglich miaute. Bildete ich mir das nur ein oder war er abgemagert? Als er mich bemerkte, kam er zu mir gelaufen und strich um meine Beine. Ich streichelte ihn und überlegte, was ich tun sollte. Ich hatte mit Frau Müller gesprochen, die aber herzlich wenig um das Wohlbefinden ihres Katers besorgt schien.
„Ach, den Sternflocke meinst du. Der haut mir ständig ab. Ein typischer Straßenkater eben. Dann ist er also im ersten Stock, wenn er sich rumtreibt.“ Mehr sagte sie nicht.
Sternflocke. Auch er war ein Gefangener in dieser Welt. Kein Wunder, dass er Reißaus nahm.
„Na, du? Hast du Hunger?“ Sternflocke schaute mich an. Und dann unsicher zurück zu der verschlossenen Tür. „Der Mann kommt nicht wieder.“ Ich zuckte die Achseln. Ja, ich sprach mit einem Kater, der leise miaute, als hätte er mich verstanden, und mir dann zum Treppenhaus folgte. Ich hatte in meiner Welt einen neuen Freund gefunden.
© Nadja Neubauer 2024-02-12