Kaffeehaus, Cappuccino und Schaumrolle. Ich lese mich durch die Salzburger Nachrichten. Am Tisch gegenüber sitzt ein junger Mann vor seiner Tasse Früchtetee und gähnt herzhaft. Seltsamerweise verspüre ich sogleich ein Verlangen, die Zähne zu blecken. Ich frage mich: Warum reißen wir eigentlich andauernd das Maul auf? Und warum ist das ansteckend?
Die Frage treibt mich um und während ich den Rest der Schaumrolle fachgerecht in meinem Magen entsorge, befrage ich Dr. Google, Experte für eh alles. Aha, Du, ich, wir alle gähnen öfter, als wir denken. Viele Tiere tun es auch. Es ist kein Zeichen von Langeweile oder Ignoranz. Seltsamerweise weiß die Wissenschaft bis heute nicht genau, warum wir gähnen. Soso.
Aber man beschäftigt sich damit wissenschaftlich und hat sogar eine Forschungsdisziplin begründet, die Chasmologie (kein Schaas!). Bis zu 15 Mal am Tag verziehen wir das Gesicht, ohne es kontrollieren zu können, sagen die Chasmologen. Auch viele Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und sogar Reptilien machen es so.
Gähnen bedeutet nicht, einfach nur die Pappen aufzureißen. Das Wesen dieses Phänomens ist, dass das Öffnen des Mundes bis zum Maximum länger dauert als das Schließen. Es gibt ein spontanes und ein ansteckendes Gähnen, das jemand anderes auslöst. Es ist also ansteckend (mit dem Wort sollte man derzeit vorsichtig umgehen, aber in diesem Kontext völlig harmlos!).
Manche Chasmologen (ich liebe das Wort!) neigen zu der Ansicht, dass Gähnen ein kommunikativer Akt ist. Vielleicht haben sich unsere Vorfahren so gemeinsam aufs Schlafen gehen vorbereitet? Der Silberrücken 30.000 v.C. reißt das Maul auf und meint damit: alles ab in die Heia! Mit Sauerstoffmangel im Hirn scheint es jedenfalls nichts zu tun zu haben. Oida!
Schlau wie sie sind, haben einige Chasmologen (geiles Wort!) herausgefunden, das man umso leichter mit gähnt, je besser man sich kennt. Es dürfte also auch mit Empathie zu tun haben. Wieder andere meinen, das Aufreißen des Kiefers, Schnabels oder Rachens könnte der Kühlung des Gehirns dienen. Als würde man einem überhitzten Motor durch Öffnen der Motorhaube Luft zuführen.
Wenn also jemand unverfroren in Deinem Beisein gähnt, dann freue Dich darüber und mach mit. Man signalisiert Dir möglicherweise gerade eine gewisse Verbundenheit. Oder findet Dich so heiß, dass das Gehirn der Kühlung bedarf. Wobei in solchen Fällen üblicherweise andere Körperregionen der Kühlung bedürfen. Klar, hinter einer Maske ist mitunter schwer zu erkennen, ob jemand gähnt oder einfach Kiefergymnastik betreibt.
Ohne Kenntnis dieser Story wäre man als Autor*in entsetzt, wenn das Publikum bei einer Lesung fortwährend gähnte. Aber wie wir dank der Chasmologen (hab ich schon erwähnt, dass ich das Wort liebe?) jetzt wissen, ist das nur ein Zeichen von Empathie. Also, liebe Freunde und Freundinnen des geschriebenen Wortes, gähnt ruhig herzhaft bei meiner Story. Ich weiß es zu schätzen! Kein Chas!
© Klaus P. Achleitner 2022-01-15