von Sandra Valet
Eine besondere Stille liegt über dem in Nachtblau getauchten Himmel. Alles wirkt plastisch, unwirklich, wie in einem dieser realistisch nüchternen Gemälde von Edward Hopper. Vereinzelt tauchen Menschen auf und durchbrechen die klaren Kanten und Linien der Bahnsteige. Ein alter Zug ruht aus der Zeit, in der man eine Reise mit einem Koffer begann auf seinem Abstellgleis. Einige S-Bahnen rollen vorbei. Wie Lichtschlangen fahren sie durch das blau, gefüllt mit schlafenden Träumern, Früh- und Nachtschichtlern und einem einzigen Menschen, der sie fährt. Bahnhof Lichtenberg, Sonntagmorgen, 6:30 Uhr, da träume ich oft noch in meinem warmen Bett. Ich stehe auf einem der zügigen Bahnsteige und möchte den gefühlt ersten Zug in Richtung Wandlitz nehmen. Um die eisige Luft nicht direkt einzuatmen, ziehe ich mir meinen Schal über die Nase. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es hier in Berlin im November Schnee geben würde und habe eine Pilzwanderung im Winter gebucht. Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass wir überhaupt Pilze finden werden. Gestern hatte es geschneit und im Wald ist der Schnee bestimmt noch nicht weggetaut. Drei Männer mit Angeln erscheinen auf meinem Bahnsteig. Auch fürs Angeln muss man offenbar früh aufstehen. Aber im Winter? Was sie wohl fangen wollen? Zwischen mir und der Angelgruppe steht eine einzelne Taube. Ich muss schmunzeln über die ruckartigen Kopfbewegungen bei jedem Schritt. Dieses ständige vor und zurück, nick, nick, nick …
Neben mir setzt sich eine Frau auf eine Bank und schließt ihre Augen. Sie scheint auch noch müde zu sein. Ich schaue in die Richtung, aus welcher der Zug kommen sollte, nichts. Auf der Anzeigetafel wird eine Verspätung angezeigt. Ich warte auf die Ankunft der leckeren Krümel und die Reisenden die aus dem Zug steigen, um sie zu verstreuen. Mh, da liegt ein wurmartiger Krümel. Pick, pick, urg … nicht lecker. Nur eines dieser komischen Stäbchen, die sich Menschen in den Mund stecken und anzünden. Aber dort, bei der Frau, lugt eine Papiertüte aus der Tasche. Krümel! Süß und klebrig, ein leckerer Traum. Sie bewegt sich nicht. Ich könnte es wagen, einen Pick zu riskieren. Meine Flügel breiten sich aus, schlagen wie von selbst. Ich hüpfe, nein, ich fliege. Ich fliege! Die Taube landet auf der Tasche. Pick, pick, pick. Durch ein Loch in der Tüte fällt ein Stück Croissant süß, buttrig, traumhaft. Plötzlich ein lautes Quietschen in meinen Ohren, ich öffne meine Augen und schaue neben mir wo ich eben noch das Croissant gegessen hatte. Da ist ein kleines Loch in der Tüte. Ich muss kurz eingenickt sein. Die Winterlandschaft gleitet draußen vorbei. Ich wärme mein Gesicht an den Sonnenstrahlen des aufgehenden Tages. Vögel fliegen, ich schließe meine Augen. Da fällt mir mein Traum wieder ein. Ich bin geflogen, leckere Krümel! Das Loch in der Croissant-tüte! War das ein Traum?
© Sandra Valet 2025-04-08