Wir 2 alten Frauen

Kornelia Fussenegger

von Kornelia Fussenegger

Story

Dieses endlose Zittern deiner Grunderkrankung vibriert in mir weiter und löst jede Abwehr, jeden Schutzschild langsam, stetig und unaufhaltsam. Trotzdem kann und will ich dich als zitterndes Bündel nicht von deiner Persönlichkeit trennen. Du bist mutig und stark. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, dem von einem Betrunkenen mitten in der Nacht, beinahe die Eingangstüre eingetreten wurde. Du hast ihn durch dieses bebende Stück Holz verbal fertig gemacht. Er ist frustriert abgezogen. Und! Du hast noch 5 Monate mit dieser teilzerstörten Eingangstüre gelebt. Ich hätte vor Angst keine Nacht mehr geschlafen. Du warst sturer als der Hausbesitzer, der die Kosten dann doch übernahm.

Unser beider Leben erinnert mich an eine Straßenkarte. Soviel Wege, in alle Richtungen. So viele Kreuzungen, so viele Entscheidungen. Viele bewusst, viele automatisch. Wir hatten diese Freiheit. Und plötzlich ist da nur mehr eine Richtung. Eine Straße. Eine Einbahnstraße. Es ist unbedeutend, ob du diesen Weg beschreiten willst. Es ist der einzig mögliche gebliebene. Aufbegehren und Traurigkeit verlieren an Schärfe, weil die Sinnlosigkeit deutlich wird. Ich kenne dich. Du wirst versuchen, verzweifelt versuchen, jeden Fussel Vernunft zu aktivieren und der Tatsache, dass du am Ende deiner Selbstständigkeit, deiner freien Entscheidung, angekommen ist, damit die Stirn bieten. Diese Kraftanstrengung bedeutet für dich Menschenwürde.

Ich verspreche dir heute und jetzt, dass ich mich ebenfalls am Riemen reiße und mich nicht vom Zittern, nicht von Institutionen und nicht von der Traurigkeit paralysieren lasse. Ich stehe dir bei, so gut ich es kann.

Aber vielleicht habe ich nur zu wenig geschlafen. Vielleicht sehe ich heute das Leben dunkelgrau und wir beide bequatschen noch viele Schwesternmontage, frühstücken noch oft gemeinsam. Wir werden sehen.

Ja! Jetzt, einen Tag später, bist du grantig. Du beschließt zu kämpfen. Du wirst alles schlucken, was dir hilft Ruhe und Haltung zu bewahren. Alles andere lässt du weg. Willkommen im Leben und im nächsten Schritt! Ich wusste es! Du bist mutig. Du bist stark.

Trotzdem, wir sind im letzten Abschnitt. Man versucht uns weiß zu machen, dass 70 das neue 50 sei. Das ist einfach nur eine Lüge! Wir alten Frauen sehen sehr wohl das zunehmende Verschwinden der vielen Wege und Kreuzungen. Und wir erkennen irgendwann diese Einbahnstraße, an deren Ende die Ruhe wartet. Wir beide versuchen zu entscheiden, wie wir diesen Weg gehen wollen. Allein die Tatsache, dass er uns so klar vor Augen steht, ordnet die Gedanken. Jeder Schritt in diese Straße bedeutet Veränderung. Manchmal angenehm, meistens aber nicht. Dieses Loslassen müssen ist Schwerstarbeit. Ab wann legen wir die Entscheidung für unseren Alltag in andere Hände? Was wird der Grund sein loszulassen? Und wie viel werden wir loslassen müssen? Sind wir zufrieden mit dem verbleibenden Rest? Das ist ebenso spannend, wie beängstigend. Unbestritten ist, dass es für diesen Weg eine riesige Portion Mut braucht.

© Kornelia Fussenegger 2025-03-11

Genres
Biografien
Stimmung
Reflektierend