von Ulrike Sammer
Tagträumer haben nicht immer einen guten Ruf. Wer in der Kindheit sichtbar weggetreten war, wurde meist beschimpft, nicht so herumzutrödeln.
Aber was ist Tagträumen? Man bezeichnet damit den Zustand, wenn die Aufmerksamkeit weg von äußeren Reizen und hin zu inneren Prozessen geht. Das kann gut, aber auch schlecht sein. Wenn jemand bemerkt, dass er sich sehr schlecht und immer nur kurz konzentrieren kann, ist das sicher bei bestimmten Arbeiten oder beim Lernen hinderlich. Es kommt immer auf die Dosis an. Wer sich selbst immer wieder beim Tagträumen erwischt, muss aber nicht beunruhigt sein. Wissenschaftler schätzen, dass jeder Mensch 30 bis 50 Prozent der Wachzeit Fantasien hat. Besonders leicht passiert das, wenn man mit etwas Monotonem befasst ist. Leerläufe können dabei leichter mit Tagträumen gefüllt werden. Das Gehirn arbeitet dabei aber trotzdem. Es sortiert in diesem Zustand um, speichert ab oder verbindet neu. Das Hirnareal, das für das Problemlösen zuständig ist, spielt beim Tagträumen eine besondere Rolle und es unterstützt die Kreativität. Wir Autoren können uns also beim Schicksal bedanken, wenn es uns mit einer ordentlichen Portion Tagträumen bedacht hat. Edgar Allan Poe sagte: „Alle, die bei Tage träumen, wissen von vielen Dingen, die denen entgehen, die nur den Traum der Nacht kennen.“
Ich mache bei mir selbst die Erfahrung, dass ich nach einem kleinen „Wegdriften“ meist eine gute, aber jedenfalls neue Idee habe. Besonders stark merke ich die Veränderung, wenn ich einige Zeit unter der warmen Dusche stehe, das Wasser alles wegspült, das mich vorher beschäftigt hat und ich alles loslasse. Beim Abtrocknen merke ich bereits, dass sich da ein neuer Gedanke formiert hat.
Nun aber auch noch zu den negativen Auswüchsen des Tagträumens. Es kann ein Zeichen einer Krankheit (zum Beispiel der Depression) sein oder der Ausdruck einer massiven Reizüberflutung, wenn man merkt, dass man sich kaum mehr konzentrieren kann. Man kann sich beim Lesen nicht mehr an den Inhalt der vorigen Seite oder an die Szene im Fernsehen, die man eben erst sah, erinnern. Das ist sehr hinderlich bei Gesprächen oder bei vielen Arbeitsprozessen. In diesem Fall sollte man einen Spezialisten aufsuchen, denn es lässt sich einiges verbessern: zum Beispiel durch Medikamente, die die Durchblutung des Gehirns fördern oder auch durch Konzentrationsübungen.
Aber allen Kreativen, die ganz sicher einen Hang zum Tagträumen haben, wünsche ich aus ganzem Herzen: Gute Gedankenflüge!
© Ulrike Sammer 2021-11-07