Wissen ist Macht: Die Flucht ins Buchregal

Willi_Schewski

von Willi_Schewski

Story
Flensburg 1989 – 1990

Niemand wollte mich verstehen. Keiner. Um aus diesem Teufelskreis zu entkommen, glaubte ich fest daran, dass nur Wissen die Rettung sein könnte. Also ab in die Leihbücherei. Dort schnupperte ich mich durch die Regale und füllte meinen Kopf mit Fachbüchern über Psychologie, Therapieformen, Hypnose – und, warum nicht, auch über die Kunst der Liebe (danke, Herr Fromm). Peter Lauster wurde mein ständiger Begleiter, seine Bücher sammelte ich wie Briefmarken. Ich las alles, was mich auf den Pfad der Selbstfindung bringen könnte: „Lassen Sie Ihrer Seele Flügel wachsen“, „Lassen Sie sich nichts gefallen“ – ja, genau, ich wollte meiner Angst eins auf die Mütze geben und endlich ein freies, unabhängiges Leben führen!

Ich tauchte in „Das Wesen der Neurose“ ein – endlich! Die heiligen Begriffe der Psychologie schwirrten mir nun nur so um die Ohren: Neurose, Abwehrmechanismen, Primärtherapie. Dabei hatte ich keine Ahnung, was Neurose überhaupt war. Dann entdeckte ich Artur Janovs „Anatomie der Neurose“. Aha, Urschrei-Therapie! Da ging es zur Sache! Ich war entschlossen, mich von dieser Sprache durchdringen zu lassen, sie mir einzuverleiben.

Aber – Überraschung! – all das geballte Wissen änderte rein gar nichts an meinem Zustand. Ich schluckte weiterhin meine Pillen. Und wenn ich nicht Pillen nahm, dann dachte ich über Pillen nach. Genial, oder?

Irgendwann kam der Moment der „Erleuchtung“: Schluss mit Tabletten, Schluss mit dem Müll. Ich wollte der Angst ins Auge sehen, wollte weinen, schreien, ja, richtig: Urschreien! Ich war überzeugt, es musste ein Leben ohne Betablocker geben. Ein Leben, in dem ich meine Gefühle spürte – ob’s wehtat oder nicht.

Von einem Tag auf den anderen setzte ich meine Medikamente ab (das war ein waghalsiges Manöver, ich gebe es zu) und – als Krönung – hörte auch noch auf zu rauchen. Heldenhaft, nicht wahr?

Dann geschah der große Zufall – oder war es kein Zufall? Peter Lauster, mein Buchguru, führte mich zu einem weiteren Namen: Alice Miller. Ihr „Drama des begabten Kindes“ war wie ein Weckruf. Das Buch, und alles, was darin stand, veränderte mein Leben. Oder besser gesagt: Es veränderte mich.

Es ging rauf, es ging runter, es war turbulent, schmerzhaft und voll bitterer Niederlagen. Aber, und das war neu: Es gab auch Hoffnung.

© Willi_Schewski 2024-09-29

Genres
Biografien
Stimmung
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Informativ, Reflektierend
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