Wo beginnt der Süden?

Story

Für meine Schwiegertochter ist Wien der sonnige Süden, denn sie kommt aus einer Stadt östlich von Moskau und schon nahe am Ural. Täglich verfolgt sie die Temperaturen in ihrer Heimat, wo es derzeit tagsüber etwa minus 10 Grad hat. Es waren kürzlich auch schon 25. Ebenfalls minus. Dann wähnt sie sich bei uns hier wie im Himmel, den sie irgendwie mit dem Süden gleichsetzt, denn sie hasst die Kälte und den Schnee. Ständig schickt sie ihren Eltern und sämtlichen Verwandten und Freunden Fotos aus Wien, auf denen die Wiesen grün sind und vereinzelt sogar noch Blumen blühen.

Früher begann in meinem Empfinden und wohl auch in dem vieler Österreicher der Süden am Brenner, in Tarvis oder in Spielfeld. Süden war etwas, wohin man auf Urlaub fuhr. Man selbst lebte im Norden, denn Mitteleuropa ist eben nicht Südeuropa. Die Alpen spielen da sicher eine wichtige Rolle, und diese kommt ihnen ja tatsächlich auch als wichtige Wetter- und Vegetationsgrenze zu.

Niemand in meiner Familie wäre auf die Idee gekommen, irgendwo anders hin als in den Süden auf Urlaub zu fahren. Süden ist Wärme, Sonne, Dolce Vita und Dolce Far Niente. Süden ist Italien, aber das “richtige” Italien, dort wo die Zitronen blühen und wo man Oliven erntet.

Lange Zeit war es in Österreich äußerst schwierig bis unmöglich einen Feigenbaum im Freien durch den Winter zu bringen, außer an ganz geschützten Plätzen. Oft genug froren die oberirdischen Teile ab, doch wenn der Wurzelstock überlebte, trieb der Baum wieder frisch aus. Einer meiner Freundinnen, die im Wiener Cottage wohnt, führte noch vor 20 Jahren immer stolz ihren Feigenbaum vor. Heute wachsen sie in Ostösterreich fast schon überall und sind in jeder Gärtnerei zu haben.

Meine Schwiegertochter definiert den Süden hauptsächlich durch das Vorkommen von Marillenbäumen. In Ihrer Heimatstadt gibt es außer Äpfeln und Zwetschken gar keine Obstbäume. Den Kirschen und Birnen sind die Winter zu kalt. Von Weinbau ist überhaupt keine Rede.

In Europa lag die Weinbaugrenze lange Zeit im Bereich des 50. bis 51. Breitengrades, was etwa auf der Höhe von Köln ist, aber das ist im Zuge des Klimawandels bereits Schnee von gestern. Man versucht angeblich schon in Südschweden und England Wein zu pflanzen. Auch die Grenzen für die einzelnen Obstsorten verschieben sich ziemlich rasch gegen Norden. Und im Burgenland gibt es bereits eine Olivenplantage.

Meine Schwiegertochter neigt auch zu einer überoptimistischen Einschätzung der abendlichen Temperaturen, und so passiert es oft, dass ich ihr bei Besuchen eine Strickjacke leihen muss, denn sie geht am liebsten vom ersten Frühlingstag an bis in den Herbst hinein unbestrumpft und im Sommerkleid. Hosen trägt sie nur bei großer Kälte, also selten. Bei mir ist es umgekehrt, denn ich trage Kleider nur im Sommer, der für mich bei 25 Grad beginnt.

Süden ist kein fix definierter geografischer Begriff, sondern eher ein Gefühl. Aber träumt man auf der Südhalbkugel der Erde eigentlich vom sonnigen Norden?

© 2022-12-11