von CharlyAngelika
„Wo sind die Hennen?“, flüsterte ich an jenem Abend überrascht, als ich die Stalltüre verschließen wollte. Am Vormittag hatten wir unsere allerersten Hennen nach Hause gebracht und ein paar Stunden ins Gehege gegeben. Danach waren sie im Freien unterwegs, anfangs wohl beobachtet von der ganzen Familie. Jetzt aber war es schon dunkler als Dämmerung und ich wollte kontrollieren, ob wohl alles in Ordnung sei.
Lauthals rief ich die Familie auf den Plan: „Wo sind denn die Hennen?“ Je nach Temperament kamen sie herbei, die Familienmitglieder. Im Laufschritt, mit Stirnlampe bewaffnet, besorgt oder im lässigen Tempo, welches ausdrücken sollte: „Na, wo werden sie schon sein?“
Mir platzte der Kragen und die Suche ging los. In kürzester Zeit konnten wir sie locken wie dereinst Oma das gemacht hat: Puuli, Puuli, Pullilen! Pull, pull, pull, Puuuuli, Puuulilen! Hoch, schrill, drängend, zärtlich, sanft, ungeduldig – das Locken perlte leicht von unseren Lippen. Nur die Hennen kümmerten sich nicht darum. Sie reagierten auf unsere Rufe ganz nach dem Motto: Nicht einmal ignorieren.
In einem Moment der Stille, als uns vor lauter Locken kurz die Luft ausgegangen war, hörten wir ein leises Gurren. Also doch! Sie machten sich ja doch bemerkbar! Wir würden wohl noch einiges lernen müssen! Alle fanden wir wohlbehalten in Hollerstauden und anderen Sträuchern, wo sie in sicherer Höhe einen Schlafplatz gefunden hatten.
Nach dieser Aufregung als unerfahrene Hennenbesitzerin damals, verspotteten mich meine Kinder mit einer Botschaft, die sie demonstrativ an die Hennenstalltüre platzierten: Wo sind die Hennen? steht auf dem Schild.
Und wie das halt so ist, wenn einem ein Ruf vorauseilt, bestätigte sich das Dilemma über die Jahre ab und zu immer wieder einmal. Ich suchte nicht nur Hennen, sondern auch deren Eier. Ich suchte auch deren Federn, um den Weg des heimtückischen, mörderischen Diebes zu verfolgen. Ich suchte undichte Stellen im Gehege und Schlupflöcher. Ich suchte sogar einmal einen Kopf, der vom unglückseligen Tier abgetrennt wurde, weil es ihn gar zu neugierig aus dem Gehege gestreckt hatte.
Niemand braucht denken, dass diese Suchleidenschaft bei mir allein hängen geblieben wäre. Neulich holte der Fuchs in der Abenddämmerung zwei Hennen und mein Mann beobachtete, wie der Räuber sich abmühte, die Beute über alle Hindernisse zu schleppen. Opfer waren ausgerechnet die beiden Hennen, die sowieso keine Eier mehr legten und quasi im Ausgedinge in den Tag hineinleben durften. Zum Glück sind die beiden Legehennen übrig geblieben, dachten wir und sicherten das Gehege und die Hütte sorgfältig ab. Ein paar Tage später ging mein Mann die Hennen versorgen und Eier holen. Ich hab sie in der Küche gehört und wusste sofort, dass es eine rhetorische Frage war. „Wo sind die Hennen?“, flüsterte er.
Frau Füchsin hat heuer wohl eine größere Kinderschar zu versorgen, denke ich.
© CharlyAngelika 2022-08-06