von Oliver Fahn
Den Löffel auf unserem Frühstückstisch hat nicht Uri Geller verbogen. Eine serienmäßig zugefügte Verkrüppelung hat ihn gekrümmt. Unterschwellig angedeutete Reinlichkeitswünsche, ein Honig frei von Bröseln, ließen mir Antonia einen Honiglöffel schenken. Ehe ich vor dem durchscheinenden Glas des goldenen Saftes eindöse, zügle ich meine Trägheit, stehe auf, überwinde die noch aufzusperrende Tür, die ein Trockenbauer in friedlicheren Jahren eingesetzt hat. Wir fahren los. Friedrich und ich.
Wege, die uns ins dichte Gestrüpp des heimischen Waldes leiten, begehe ich mit der Aufmerksamkeit eines Protokollanten. Unseren holprigen Marsch verzeichne ich wie ein Fahrtenschreiber, der später imstande sein wird, jeden einzelnen Schritt nachzustellen. Teils beträchtlicher Matsch saugt an meinen Sohlen. Während ich mich gegen das Einsinken wehre, schwindet mein Ärger über den sträflichen Leichtsinn, mit dem ich Pfandflaschen weggeworfen habe. Zeitungen abbestellt und Nachrichten verwehrt, sperren sich auch solche Informationen aus. Valensina’s Umstellung von einstiger Pfandfreiheit ist mir entgangen. Ich schotte mich ab, bereite mich vor. Haare der Kletten, die sich auf dem Obermaterial meines Schuhs verfangen, kann ich mit dem Pinzettengriff meiner Finger nicht vollends herunterpuhlen. Ästen wegbücken, glitschige Stämme übersteigen, das Rascheln im Gebüsch auf nahende Wildschweine untersuchen, der Geräuschkulisse des Forstes Aufmerksamkeit schenken.
Seit ich auf Vorrat esse, drückt mein Magen, sobald ich Gestrüpp im niedrigen Gang bewältigen oder unter Tannenzweigen hindurchschlüpfen muss. Dunkelgrünem Unterholz folgt eine Lichtung. In meinem Gehirn erstelle ich eine Aufgabenliste. Antonia herbringen, Zelt aufbauen, einen Gaskocher, Suppenschüsseln, Material für Lagerfeuer, Sturmfeuerzeug, Taschenlampen, Batterien, Isomatten, Müsliriegel, Kochgeschirr. Herschleppen, was für einige Tage ausrüstet. Mit dem beruhigenden Gefühl ausstatten, vorgesorgt zu haben, versorgt zu sein. Fliesenstücke auf einem Pfad mit Traktorspuren und noch weichen Hufabdrücken fügen sich bei längerem Hinsehen zum Mosaik. Werden wir in mitgebrachten Decken gar Wochen hier verbringen können?
Ich schule mich, Schönheit zu erkennen, die Natur entspringt. Friedrichs Fundstücke ergeben plötzlich Sinn: Ein Schild mit Pflegehinweisen einer Freilandgurke, der zackige Bruchteil eines Abwasserrohrs, einem Jungbaum abgefallener Verbissschutz. Ein Ast dient als Garderobe meines Rucksacks. Ich tätschle Friedrichs Hinterkopf. Ich danke wortlos der weisen Voraussicht, die seinem Allerlei an Gegenständen mitschwingt. Anstatt in der Siedlung zu bleiben oder in einem fernen Land Asyl zu suchen, wird meine Familie hier Unterschlupf finden. Die Tränen, die ich vor Erleichterung weinen will, verdrücke ich vor Friedrich. Wenn ringsherum Chaos ausbricht, werden wir überleben. Im Wald.
© Oliver Fahn 2022-04-11