In Bosnien ticken die Uhren anders. Vielleicht ticken sie auch gar nicht, ist dort die Zeit stehen geblieben und ich habe es bisher nicht gewusst. Man will mir in Split keine Fahrkarte verkaufen. Dort ist Games of Thrones gedreht worden und ich habe noch nie so viele Papp-Drachen in einer Altstadt gesehen. Der Drachen hinter der Glasscheibe ist echt. „Der Bus ist voll, Basta.“ Mein bosnischer Bekannter sieht das locker, ebenso wie die umstehenden Fremden, mit denen er sich ausführlich darüber unterhält. Alle Bosnier sind Freunde. Der Busfahrer gehört dazu. Der Fahrpreis ist bei ihm billiger, der Bus halb leer und voller Freunde. Bosnien ist nicht Teil der EU. Kroatien schon. An der kroatischen Grenze, mitten in der bergischen Pampas, warten schon die Zöllner, Passkontrolleure und die vollen Müllcontainer mit konfisziertem Schmuggelgut auf uns. Alle raus aus dem Bus und im Gänsemarsch an der Passkontrolle vorbei. Niemand beachtet unsere liegengelassenen Rucksäcke. Alle Gänse wieder in den Bus, hundert Meter, wir erreichen die bosnische Grenze. Raus, Gänsemarsch, weiterfahren. Der ausgemusterte Reisebus sieht geplündert aus. Kabel hängen von der Decke, wo vorher Lautsprecher waren. Ich stelle mir vor, wie der Bus von der Passstraße abkommt und suche den nächsten Nothammer. Mein Bekannter hält ein Nickerchen. Ich schließe die Augen.
Das Städtchen, in dem der Bus wendet, wieder zurück zu den Drachen fährt, ist wie ausgestorben. In jedem dritten Haus gibt es ein Café. Eine fahrbare Bude verkauft Zigaretten zu einem Spottpreis. Ich gönne mir eine E-Zigarette und bekomme D-Mark zurück. Auch den angeschlagenen Preis hat die ältere Dame mit Kopftuch halbiert. Wir, nein, mein Bekannter beschließt, kein Taxi bis in sein Dorf zu nehmen. Nach einem kurzen Fußmarsch ruft er über eine Hecke ein gedehntes: Heeey! Ein Freund. Fünf Minuten später sitzen wir in einem deutschen Auto, eigenhändig in Deutschland gekauft und importiert. Deutschland ist gut. Im Dorf werde ich herumgeführt als der deutsche Besucher und bestaunt wie ein Alien. Mein Begleiter ist meine Eintrittskarte in eine andere Welt. Ich zeige stolz auf ihn und rufe: „Freund, Kollega, Kollega.“ Tatsächlich haben wir in Deutschland fünfzehn Jahre davon gesprochen, dass er mir sein Heimatdorf, seine Mutter, seine Jugend und seine Kindheit vorstellt. Es ist alles noch da. Nicht viel hat sich verändert. Die offene Freundlichkeit der Dorfbewohner ist echt. Im Herbst gab es einen Wintereinbruch; ein junger Bursche wurde vermisst, und jeder im Dorf war auf den Beinen, bis sie ihn halberfroren unter einer Brücke hervorzogen. Ein alter Kauz hat es mir angetan. Er gehört zum engeren Kreis, sitzt mit am Abendtisch und füllt mich mit selbst gekeltertem Rotwein ab. Ab und an kommt etwas über ihn und er springt auf, hebt die Arme, dreht sich im Kreis und beginnt zu singen. Es klingelt an der Tür, nur symbolisch, und zwei alte Frauen kommen dazu, bringen mehr Käse und Wein. Die Heiligenbilder über dem Esstisch sind nicht symbolisch, jeder bekreuzigt sich vor dem Essen und ich blicke verlegen auf meine Hände. Morgen zeigt mir mein Kollege die Wildnis, nur über den Berg und wir werden von weit oben die umgeräumten Minenfelder sehen.
© Michael Fallik_ARIIOOL 2025-06-28