von LillyMay
„Ach so ein Mist. Ich wusste, heute ist ein schlechter Tag dafür! Jetzt haben wir den ganzen weiten Weg gemacht und man kann gar nichts sehen.“ Meine Tauschmutter ist enttäuscht, als wir in Zermatt angekommen. Es ist ein kalter nebeliger Tag im Oktober und es ist kalt und nass. Wir sind sehr früh losgefahren, damit wir genug Zeit haben hinauf zu fahren und damit ich das Matterhorn sehen kann. Leider weiß man vorher nie wie das Wetter wird, aber es gibt eine ziemlich präzise Vorhersage für Zermatt, also eigentlich präzise. Gestern Abend gab es beim Abendessen eine hitzige Diskussion, ob die präzise ist und man dem ganzen glauben kann. Der Tauschpapa meinte, dass die Vorhersage immer recht hat, weil direkt in Zermatt und auch auf dem Berg eine Wetterstation zu Forschungszwecken steht. Die Tauschmama hatte ein schlechtes Gefühl für morgen und meine das Wetter ist immer unberechenbar.
Tja, jetzt stehen wir hier, nach vier Stunden Fahrt und man sieht absolut nichts. Gar nichts. Noch nicht mal der Fuß des Berges ist zu sehen. Sieht so aus, als hätte die Tauschmutter recht behalten. Obwohl wir die Situation jetzt nicht mehr ändern können, ist eine Diskussion entbrannt, ob wir trotzdem Tickets kaufen sollen, um mit der Bahn hinauf zu fahren. Günstig sind die Karten nämlich nicht und wenn man dann nichts sieht…
Es sieht so aus, also würden die Wolken so tief hängen, dass sie keinen Platz für ein Stückchen Himmel lassen. Ich finde die Stimmung ein bisschen gespenstig. In den Straßen schein heute auch nicht viel los zu sein und es sind kaum Touristen unterwegs. Da ich am Sonntag wieder nachhause fliege und nicht nochmal eine Chance haben werde das Matterhorn zu sehen, wurde jetzt beschlossen, dass wir trotzdem hochfahren und wenn es nur ist, um oben was zu essen.
Krachend kommt die Kettebahn neben uns zum Stehen und wir klettern in die kalten Abteile. Ich hätte mir echt noch was dickeres Anziehen sollen. Wäre hätte den auch wissen können, dass es hier im Oktober kälter als im deutschen Winter. Langsam klettert die Bahn am Berg nach oben. In einem Moment hat man kurz einen sehr schönen Blick auf die Stadt Zermatt, wie sie ruhig zwischen den Bergen liegt. Im nächsten Moment wird die Bahn von den Wolken verschluckt und man sieht nichts mehr, nichts außer die graue Wand. Am Fenster des Abteils bilden sich Eiskristalle und man sieht noch weniger. Der Weg nach oben ist lang und die Bahn ist oft so laut, dass die Unterhaltungen schwierig sind.
Plötzlich wird es wahnsinnig hell und es dauert einen kurzen Moment, bis meine Augen sich an das grelle Licht gewöhnen. Die Wolkendecke liegt jetzt unter uns und das Matterhorn ragt in den gleißend blauen Himmel. Der Schnee der Landschaft reflektiert das helle Sonnenlicht und es scheint surreal. Ein atemberaubender Anblick! Der Berg ist nah und doch gleichzeitig noch so weit weg. Man kommt sich winzig vor.
Die Bahn kommt zum Stehen und meine Stiefel treten in den weißen Puderschnee.
© LillyMay 2021-01-19