Woran denkst Du?

Hannah Scheihing

von Hannah Scheihing

Story

„Woran denkst du?“, möchtest du von mir wissen. Dein Haar umweht im warmen Wind dein sanft lächelndes Gesicht. In solchen Momenten wünschte ich mir, die Zeit anhalten zu können.

Es ist Hochsommer und wir spazieren über die Felder. Der blaue Himmel schmiegt sich an die Berge, die sich weit in der Ferne über den Horizont ziehen. Durch die Lüfte schwingt Vogelgesang, der von allen Seiten herbeiströmt. Rote Mohnblumen wiegen im Wind, winken uns zu, doch wir ziehen weiter. Weiterzuziehen ist eines der Dinge, die der Mensch immer zu tun scheint. Weiterziehen, größer denken, weiterlaufen, höher klettern. Wieso halten wir nicht an? Wann bist Du zuletzt stehengeblieben, auf deinem Lebensweg, um dich auch nur für einen noch so kleinen Augenblick umzusehen? Einfach um dir all die wunderbaren Dinge einzuprägen, die in dir und um dich herum geschehen? Dieses Leben erscheint mir wie ein Wettlauf, der ins Nichts führt, der uns nirgendwo hinführt. Wir jagen einem Ziel nach, das wir niemals erreichen können. Immer wenn wir unsere vermeintliche Glückseligkeit erlangt haben, eilen wir der nächsten nach.

Ich halte deine Hand, die vergänglich ist, wie Blütenstaub. Manchmal ist mir, als würde ich in einem langen, unwirklichen Traum erwachen. Ich sehe die Welt plötzlich aus anderen Augen, fühle anders und lebe anders. Jede Bewegung, jeder Atemzug erschüttert mich auf eine unvorhersehbare Weise. Meist geschieht das, wenn ich mir Gedanken darüber mache, worin unser aller Sinn besteht.

Ich wandere über diesen Planeten, der weder mein ist, noch dein. Ich halte deine Hand, die alles ist, was ich wirklich kenne, in diesem Universum. Vielleicht werde ich eines Tages die Zeit anhalten können. Wir beide, unsterblich in diesem Augenblick.

„Ach, ich denke an nichts Besonderes…“, lächle ich und drücke deine Hand ein wenig fester, „Woran denkst du?“

Du schaust in die Ferne, fragst dich, was dich noch erwarten wird, in nächster Zeit. Jeden Augenblick deines Lebens glaubst du zu verschwenden, weil nichts von all dem, was du tust, dich bisher glücklich machen konnte. Leben heißt Leiden, das denkst du. Nach einem Gott suchst du seit langer Zeit nicht mehr. Den, den du hattest, hast du geliebt, gehasst, verflucht und angefleht. Und nichts hat sich verändert. Deine Wahrheit, dein Glaube ist, dass Nichts von Bedeutung ist – auch wir nicht. Wir sind nichts weiter, als eine unbedeutsame Laune der Natur. Zufall ist die entscheidende Größe, nicht Gott. Das ist dein Glaube und zugleich deine größte Angst. Du fürchtest nichts mehr, als die Unbedeutsamkeit.

Und so wandelst du allein durch diese Welt, ohne Schutz vor der grausamen Wahrheit unserer Vergänglichkeit, unserer Sterblichkeit.

„Ach, ich denke an nichts Wichtiges…“, entgegnest du, siehst mich an und streichst mir eine frei fliegende Haarsträhne hinters Ohr.

So wandern wir weiter nebeneinander her, in Gedanken versunken und ins Ungewisse hinein.

© Hannah Scheihing 2021-04-15

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