Wortschlag

Jacqueline Licher

von Jacqueline Licher

Story

Du warst schon sehr frĂŒh bei mir. Erinnere mich noch an die allererste Begegnung. Ziemlich frĂŒh habe ich Bekanntschaft mit dir gemacht. Aber das sind wahrscheinlich nur ErzĂ€hlungen. Ich konnte dich austesten, kennenlernen, dich benutzen und das erste Wort Mama erschaffen. Es folgten viele Worte. Vor allem Worte, um zu Ă€ußern, was ich möchte und nicht möchte. Ein jahrelanger Lernprozess, den man durchmacht, zur Erlangung des Wortschatzes. Doch was bedeutet es, wenn man merkt, dass die Worte im Kopf im eigenen Takt schlagen, so wie die regelmĂ€ĂŸigen und auch unregelmĂ€ĂŸigen Töne im Herzen?

Als ich Ă€lter wurde, merkte ich schnell, dass ich besser ĂŒber meine Gedanken schreiben als sprechen konnte. Dies brachte mir in der Schule gute Noten schriftlich, jedoch selten mĂŒndlich.

All das, was ich im Kopf hatte, kam zu Papier und formte sich Satz fĂŒr Satz verstĂ€ndlich und fĂŒr mich befreiend zu etwas, was ich erschaffen konnte. Sekundenschnell. Allerdings war man mir oft voraus. Schreiben dauert lĂ€nger, als eine Antwort zu rufen und wer liest sich schon gerne lange Texte durch? Lange ging das so weiter. Als kĂŒnstlerisches Ventil nutzte ich eine Onlinezeitung und das dramaturgische Schreiben beim Theater.

Als ich Ă€lter wurde, gab es allerdings Aussetzer. Mich ließ mein grĂ¶ĂŸter Schatz im Stich. Mir fehlten die Worte fĂŒr gewisse Situationen. War wortlos zurĂŒckgelassen und ich stellte mir Fragen. Vor allem stellte ich mir dabei die Frage, wo du geblieben bist. Warum du mich in diesen Momenten alleine gelassen hast. Plötzlich fiel mir nicht mehr ein, was das GefĂŒhl beschreibt und wie ich es verstĂ€ndlich zu Papier bringen könnte. Kein Wort war vorhanden. Sie fehlten einfach. Ich suchte nach einer Definition und einem Synonym, um sie zu finden. Um eine Idee davon zu bekommen, was man hĂ€tte schreiben können. Aber nichts reichte dafĂŒr. Es fĂŒhlte sich so an, als ob du mich verlassen hĂ€ttest. Damit wurde mein Wortklopfen immer lauter und dann kam der Wortstillstand. Nichts ging mehr, nichts blieb mehr ĂŒbrig.

Und heute weiß ich, wo du warst. Du warst die ganze Zeit da und hast wortlos weitergeschlagen. Die Worte hast du in mir zurĂŒckgelassen, um dich neu zu erfinden. Um das, was nicht in einem Kapitel geschrieben stehen sollte, zu begraben. Ein bisschen wie eine Art Schutzschild.

Denn etwas, zu dem wir einst eine besondere Bindung hatten, können wir niemals in uns verlieren. Es wird ein zutiefst geliebter Teil von uns. Es geht nie mehr weg von uns und hat einen Ankerplatz in uns gefunden.

Was wĂ€re ich nur ohne dich? Ohne Worte wĂ€re ich nichts. Meine Basis fĂŒr eine Seele voller Worte: Papier, Stift, Radiergummi.

Aber was ist, wenn ich nicht die richtigen Worte finden kann? Wenn ich tausende Geschichten und Gedichte schreibe und niemals die richtigen Worte fĂŒr DICH finden werde? Heute weiß ich, dich finde ich sowieso wortlos, mit dem Herzen. Immer!

Das Schreiben ist mein Wortschlag. Er schlÀgt immer doppelt so schnell wie mein Herzschlag pro Sekunde.

© Jacqueline Licher 2021-11-18