Wotan

St_Julia

von St_Julia

Story

“Wotan” steht auf dem Kran, der aus dem trĂŒben Morgen emporragt. “Wotan” – und riesige Betonklötze beschweren ihn und verankern ihn in dieser RealitĂ€t. Um mich herum trĂŒbe Gesichter auf dem Weg zu trĂŒben Bildschirmen. Ein Schwarm von Tauben steigt auf, empor in Richtung des Schriftzuges, Wotan, Odin, Allwissender, Allsehender, allein im grau. Einige Schritte weiter steht ein Lieferwagen auf dem Kopfsteinpflaster. “ProElektra” steht darauf. Ich stelle mir vor, wie eine griechische Kriegerin die Blutrache an denen vollzieht, die ihrem Vater Unrecht taten. Unaufhaltsam auf dem Weg ihrer Rache. Doch ich sehe nicht, ob in dem Lieferwagen jemand sitzt. Ich laufe weiter in die Bahnhofshalle und die Massen umfließen mich, wie Wasser, wie eine Geschichte im Fluss der Zeit. Eine Möwe fliegt ĂŒber den Bahnsteig hinweg, so fern vom Meer. Ist es Zeus auf der Jagd, Ikarus, der die Sonne verlor? Oder hĂ€lt sie sich fĂŒr den Adler auf dem Weg zu Prometheus? Wie erniedrigend, die Leber von einer Möwe statt von einem Adler weggefressen zu bekommen, immer wieder, wie ein hilfloses Fischbrötchen. “liv” steht auf einem ausgeschalteten, roten Neonschild genau vor mir. Eine Aufforderung. “live” – doch sie geht unter in der lĂ€rmenden Stille des Alltags. Ein Junge verdeckt das Schild, als er sich vor mich stellt. Eigentlich ein junger Mann, doch er hat den leicht sĂŒffisanten Blick eines Kindes, das gerne auf Schnecken tritt, um das Knirschen zu hören. Er trĂ€gt schwarze Markenturnschuhe und eine zerknitterte weiße PapiertĂŒte, auf der “Calvin Klein” steht. Die TĂŒte wurde schon hĂ€ufiger benutzt, als die Anzahl der Benutzungen fĂŒr die sie gedacht war (eine.). Der Junge glaubt an diese TĂŒte, und vielleicht tun die beiden MĂ€dchen, die bei ihm stehen, das auch. MĂ€dchen mit langen blonden Haaren und farblosen Augenbrauen, weißen Markenturnschuhen und einem verĂ€chtlichen Blick gegenĂŒber der ganzen Welt. Goldenes Haar, wie Sif und ein Blick der Loki das FĂŒrchten lehren könnte. “liv”, lese ich wieder in roten Neonlettern. Ich denke an gestern und lĂ€chle. Manchmal kann man ganz kurz das Weltengeflecht unter dem grauen Schleier erkennen. Eine Frau mit langen roten Haaren und einer blauen Tasche tĂ€nzelt nervös am Bahnsteig herum – sie trinkt aus einem Pappbecher und wirft ihn achtlos in einen farblosen Stoffbeutel, den eine Ă€ltere Frau ihr hinhĂ€lt. Eine Ă€ltere Frau mit stumpfen Haaren und stumpfen Augen. Die junge Frau schaut ihr nicht mal ins Gesicht und wendet sich dem einfahrenden Zug zu. Ich schaue mir die blaue Tasche genauer an. Hunderte Symbole – ein Dreieck, darin ein Kreis, darin ein Strich. Die HeiligtĂŒmer des Todes, ewiges Leben, ewig mit den Geliebten vereint. Die Ă€ltere Frau verlĂ€sst fluchtartig den Bahnsteig. Im Zug unterhĂ€lt ein Mann seine GefĂ€hrten mit Geschichten. OhrenbetĂ€ubendes Lachen erschallt in regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden. Es geht um nichts besonders, amĂŒsante Anekdoten. Ein Skalde am Feuer, Wotan segne ihn. Kurz bricht die Sonne durch die Wolken und scheint ĂŒber die Felder und ich denke an Ra, der in der Sonnenbarke ĂŒber den Himmel fĂ€hrt. Ein blauer Schleier zieht vorbei, eine endlose Halle mit den stolzen Lettern “Rhenus” – Rhein, Lebensader, Verbindung zwischen den Landen. Und so spĂŒlt mich der Fluss des Alltags abends wieder an den Ausgangspunkt. “Wotan”, steht auf dem Kran, der in den trĂŒben Abend emporragt. Former von Welten, allsehend, allwissend. Doch an den meisten Tagen wohl nur ein Kran.

© St_Julia 2024-10-08

Genres
Anthologien