von Uwe Böschemeyer
Die Liebe von Eltern zu ihren Kindern kann grenzenlos sein – meine jedenfalls war es einmal sogar im wörtlichen Sinne. Meinem Sohn zuliebe überwand ich eine meiner größten Ängste.
Mein Freund Wolfgang hatte die Möglichkeit, manchmal ein kleines Flugzeug, eine Cessna, zu fliegen. Oft quälte er mich an Sonntagen mit Anrufen wie zum Beispiel diesem: „Ich fliege nach Wien. Da könntest Du Deinem Professor Frankl ´Guten Tag` sagen.“ Dabei wusste mein Freund, dass ich eine ausgeprägte Flugangst hatte – im Gegensatz zu meinem damals 10jährigen Sohn Andreas, der so gern einmal geflogen wäre.
An einem dieser Sonntage fuhr ich mit ihm zum Hamburger Flughafen, weil er sich mit Wolfgang zu einem Flug verabredet hatte. Auf dem Weg „sah“ ich das Bild einer Nussschale vor mir, die ziellos und verloren über der Erde schwebte. Ich schwor mir, nie in ein solches „Ding“ zu steigen. Es kam anders.
Am Flughafen angekommen, winkte uns Wolfgang schon von weitem zu. Er strahlte. Strahlend war auch der Himmel. Er begleitete auch mich zu seiner Cessna. Dann hob er zu einer – seiner Auffassung nach – ernsten Rede über aerodynamische Gesetzmäßigkeiten an, die er mit dem Satz schloss -und mich dabei fest ansah: „Nie wieder wirst Du wie heute die Möglichkeit haben, völlig gefahrlos zu fliegen. Der Vogel kann bei diesem Wetter gar nicht abstürzen.“
Dann passierte es: Mein Sohn, überwältigt von Wolfgangs Rede, sah mich an – wortlos, nicht fordernd, nur leise bittend und sehr liebevoll. Es war um meinen Vorsatz von der Hinfahrt geschehen. Kurzum: Man verfrachtete mich in die zweite Reihe dieses fliegenden Käfigs. Die Tür schloss sich. Der Pilot verständigte sich mit dem Tower. Dann ging es in die Weite des Himmels.
Erst jetzt erinnerte ich mich daran, was ich einer jungen Frau, die Flugangst hatte, empfohlen hatte. Also begann auch ich „über mich selbst hinauszusehen“: auf die Einzelheiten des Cockpits, dann mit einem Anflug an Mut auch auf die Landschaft unter uns. Wir flogen über Wälder, Dörfer und Städte. Ich staunte über die Schönheit der unter mir liegenden Welt.
Dann der Schock. Ich traute meinen Augen nicht. Ohne ein Wort zu sagen, überließ mein „Freund“ meinem Sohn den Steuerknüppel. Und Andreas vergaß seinen Vater. Er steuerte den Flieger tief nach links unten, tief nach rechts unten, wieder gerade aus, wieder tief nach links unten usw. Dabei jubelte er. Wolfgang wagte nicht, sich nach mir umzudrehen. Und ich? Ich wollte meinem Sohn nicht die Freude verderben, gab keinen Ton von mir, auch nicht einen, obwohl mir vor lauter Angst das Herz bis zum Hals schlug.
Es war dunkel geworden. Wolfgang hatte wieder die Regie übernommen. Irgendwann sah ich die vielen Lichter der Landebahn und hatte nur einen Gedanken: „Wie kann diese ´Nussschale` die Erde schadlos erreichen?“ Zu meiner nicht beschreibbaren Erleichterung landeten wir sicher. Als wir festen Boden unter den Füßen hatten, drückte mich mein Sohn zärtlich. Und ich begriff, wozu Liebe imstande ist.
© Uwe Böschemeyer 2019-04-11