Wunder Punkt

mathilde

von mathilde

Story

Ich sitze auf dieser Treppe eines alten Vorgartens, auf der wir so oft saßen und von oben prasseln die Erinnerungen herab. Du hast den Regen immer geliebt. Bist dageblieben, bis dein T-Shirt völlig nass war und hast mich dann angegrinst wie der glücklichste Mensch der Welt. Hier haben wir geredet, Musik gehört, die Zeit geteilt.

Jetzt ist es fast ein Jahr her, dass wir uns kannten. Mitte Mai bin ich das letzte Mal von dir nach Hause gefahren. Das ist viel Zeit und doch finde ich dich noch überall. In meinen Gedanken, in Gesprächen mit fremden Leuten, auf den Fotos an meiner Wand und an all den neuen Orten, die ich ohne dich besuche. Es ist, als würde mein Kopf ständig deine Lücke füllen, um das, was von dir übrig geblieben ist, nicht auch noch zu verlieren. Es ist egal, wie sehr ich versuche dagegen anzukämpfen, du bist und bleibst mein wunder Punkt. Und ich vermisse nicht nur deine Anwesenheit und unsere Zeit. Ich vermisse es, eine Person zu haben, mit der ich alles teilen und die ich immer anrufen oder besuchen kann. Ich vermisse den Platz zwischen deinen Armen, deine Witze und dass du mich so gut kanntest wie niemand anderes.

Doch vielleicht muss ich nicht für immer traurig sein und vermissen ist nur sowas wie Dankbarkeit.

Vielleicht reicht es, mich an dich zu erinnern, und all unsere schöne Zeit in meinem Kopf zu behalten.

Vielleicht sind manche Menschen nur für einen Lebensabschnitt gedacht.

Vielleicht kann man glücklich werden, obwohl einem gerade noch etwas fehlt.

Vielleicht wird eine Zeit kommen, in der ich zusehen kann, wie es stetig auf den warmen Asphalt tropft und nicht mehr weiß, wie dein Lachen klingt.

Vielleicht lerne ich mich selbst zu lieben, weil du es nicht mehr tust.

Und vielleicht wird mir dann irgendwann ein Mensch über den Weg laufen, der alles, was wir hatten, klein aussehen lässt und unendlich weit weg. Der unsere Zeit und meine Erinnerung an dich einfach überspielt, wie eine alte Schallplatte oder Kassette mit einem neuen Song.

Vielleicht verschwindest du dann ganz.

Vielleicht denkst du manchmal noch an mich, wahrscheinlich aber nicht.

Vielleicht ist es besser so, auch wenn ich es noch nicht verstehe. Ich klappe den Schirm zu und die Tropfen von oben vermischen sich langsam mit denen auf meinem Gesicht. Vielleicht werden wir uns ja irgendwann wiedersehen, aber bis dahin lass ich dich gehen.


© mathilde 2024-03-10

Genres
Romane & Erzählungen, Lebenshilfe
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend, Traurig
Hashtags