Wut

Marit Heidler

von Marit Heidler

Story

Du hast sie dir nur eingebildet.

Die Worte hallen in meinem Kopf wie ein Gewitter. Ein großes, dunkles Gewitter, das mich umhüllt, sich in mir reinfrisst und mich nicht mehr loslässt. Als Kind hatte ich immer große Angst vorm Gewitter. Es ist so unberechenbar und nicht beeinflussbar. Wir als kleine Menschen können nichts gegen dieses Ungeheuer unternehmen. Wir sind ihm machtlos ausgeliefert. So wie dem Tod.

Ich bin mittlerweile schon wieder in unserer Wohnung angekommen. Ich weiß weder, wie ich hergekommen bin noch, wie lange ich gebraucht habe. Mein Kopf war zu voll – voll mit Gedanken, mit Fragen – und gleichzeitig zu leer? Ich kann nicht glauben, was gerade passiert ist. Sarah darf nicht tot sein. Das darf alles nicht wahr sein. Tief in meinem Inneren wusste ich es eigentlich doch schon. Ich war schließlich bei ihr – im Krankenhaus. Ich war bei ihr in ihren letzten Minuten. Tränen rennen meine Wangen herunter – verdammt, müsste ich nicht schon längst ausgetrocknet sein?

Ausgelaugt werfe ich meine Jeansjacke im Flur auf den Boden. Mein Blickt streift über den Holzbilderrahmen, der auf der Kommode steht. Ich greife nach dem Rahmen und streiche sanft über das zarte Glas. Auf dem Bild sind Sarah und ich zu sehen, wie wir überglücklich in die Kamera grinsen. Es ist das erste Bild von uns beiden. Bei dem Anblick muss ich lächeln. Und es schmerzt. Es schmerzt verdammt doll. Behutsam stelle ich das Bild wieder an seine Stelle und gehe in die Küche. Mein Blick fällt auf die Brötchentüte, in der noch das unberührte Käsebrötchen von heute Morgen liegt. Ich stöhne laut auf. Wie konnte ich denn nur so dumm sein? Wie konnte ich denn ernsthaft glauben, dass das alles nur ein Traum war? Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Mein Gesicht wird ganz heiß und ich merke, wie mein Herz zu rasen beginnt. Ich bin so dumm. So verdammt dumm. Mit einem lauten Schrei trete ich gegen einen der Holzstühle, der daraufhin mit einem ohrenbetäubenden Knall zu Boden fällt. Die Zeitung von heute Morgen liegt unberührt auf dem Tisch. Meine Hände greifen danach – schneller, als ich denken kann – und beginnen, sie zu zerreißen. In tausend Stücke. Tausend kleine Fetzen, die lautlos zu Boden fallen. Lautlos – das will ich nicht. Ich brauche Lärm. Lärm, der die Stille übertönt. Lärm, der die Leere füllt. Gefrustet schlagen meine Hände gegen die Wand, boxen auf den Tisch. Ich schreie, trete gegen den Tisch, gegen die Wand. Mein Herz pocht so laut in meiner Brust. Meine Lunge brutzelt. Du hast sie dir nur eingebildet. Ich schreie lauter. Schreie aus Wut, aus Verzweiflung, aus … Angst? Meine Handknöchel bluten schon und trotzdem kann ich nicht aufhören, gegen die Wand zu boxen.

Du hast sie dir nur eingebildet. Ich weiß! Verdammt, ich habe es verstanden! Meine Fäuste sacken zu Boden. Und mit ihnen mein ganzer Körper. Langsam rutsche ich die Wand entlang nach unten. Mein Körper wird durch mein Wimmern erschüttert. „Sie ist tot.“ Es fällt mir schwer, das auszusprechen. Es tut weh. Verdammt weh. Mein Gesicht gräbt sich in meine Hände. Leise wimmernd sitze ich auf dem Küchenboden. Ich weiß nicht, wie lange. Minuten. Vielleicht Stunden. Zu lange – und doch viel zu kurz.


© Marit Heidler 2024-09-02

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Traurig, Angespannt, Sad