von Julia Falk
Ich liebe es, aufzuräumen. Dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr bin ich etwa so ordentlich wie ein Waschbär, aber wenn es mich dann überkommt, ist es eine Entdeckungsreise. Ich liege bäuchlings auf dem Teppich, als meine Arme in der Dunkelheit auf einen Widerstand stoßen und ich weiß, ich habe einen Schatz gefunden. Mit etwas, das an Schwimmbewegungen erinnert, ertaste ich den Pappquader, bevor ich durch einen Akrobatikakt erst ihn ans Tageslicht und dann meinen Hintern auf den Teppich befördere. Während ich mir die staubigen Hände am Teppich abwische, begutachte ich meinen Fund.
Die Ecken des Schuhkartons sind eingedrückt und die rechte Seite seltsam ausgebeult. Da, wo meine Schweißfinger die Staubschicht invadiert haben, glänzt die Pappe schwarz, an anderen Stellen kommt das Braun der zweiten Pappschicht zum Vorschein. Als ich über den Deckel blase, explodiert eine winzige Galaxie. Ich lege den Deckel beiseite, unter dem sich allerlei Krimskrams auf eine Weise stapelt, die jeden Tetris-Profi hätte erschaudern lassen. Die Ausbeulung an der Seite stammt von einer Steinschleuder und ganz oben liegt ein Buch, das ich mir sicher nicht selbst gekauft habe. ‚Alice im Wunderland‘, sagt der blaue Einband. In meinem Hinterkopf rappelt es. Ich brauche ein paar Sekunden, aber dann stolpert aus einer Ecke, die fast so verstaubt ist wie der Karton, eine Erinnerung hervor. Es ist absurd, wie lang ich nicht mehr an sie gedacht habe.
Xenia Kaiser war meine erste beste Freundin. Etwa zwei Jahre lang hat sie in dem gelben Haus auf der Ecke gewohnt, das heute grau ist. Wir gingen in dieselbe Grundschule und nach dem Unterricht kam sie fast jeden Tag zu mir nach Hause und manchmal ich zu ihr. Meine Erinnerung an das Haus der Kaisers ist schwammig, weil die Tapeten wechselten wie schlechte TV-Shows zur Primetime. Die Besetzung blieb gleich, aber ich weiß noch, dass die Rollen jedes Mal andere waren, Xenias Mutter mal ihre beste Freundin und mal ihre Chefin und Xenia mal das Musterkind und mal die Rotzgöre, obwohl sie für mich immer dieselbe blieb. Irgendwann sah ich das Haus der Kaisers gar nicht mehr, weil wir uns nur noch bei mir trafen, und hin und wieder kam Xenia auch zu uns, wenn ich gar nicht da war, setzte sich in unseren Garten und las, manchmal den ganzen Tag. Als ich das Buch abends auf unserer Gartenbank fand, wusste ich, dass Xenia wieder dagewesen war. Am nächsten Morgen standen ‚Alice im Wunderland‘ und ich also vor ihrer Haustür und warteten. Zuerst bemerkte ich das fehlende Klingelschild, dann, als nach wiederholtem Klingeln niemand öffnete, die leere Terrasse. Mit Wackersteinen im Bauch lief ich um das Haus und spähte durch die vorhanglosen Fenster, doch jedes Zimmer sah gleich aus, dunkles Nichts vor kahlen Wänden. TV-Show abgesetzt. Trotzdem klingelte ich noch einmal.
Ich lege das Buch zur Seite und wühle mich durch eine Reihe von Fotos. Bei einer wackligen Großaufnahme von einem grünen Kinderauge halte ich inne und spüre einen Anflug von poetischem Tiefsinn. Man sagt, Augen seien die Fenster zur Seele, aber wenn die Person innen das Licht ausschaltet, tun Fensterscheiben nicht viel mehr als zu spiegeln. Noch an dem Tag, an dem ‚Alice im Wunderland‘ in der Kiste landete, wusste ich, dass ich meine unbekannte Vertraute nie wiedersehen würde. Mein Blick wandert zurück zu dem Buch, das zwischen Schleuder und Kasten liegt. Vielleicht werde ich heute Abend noch lesen.
© Julia Falk 2023-07-31