„Ticket.“
Mir rutschte das Herz in die Hose. Es wurde ernst. Ich kramte das Ticket aus meiner Hosentasche. Jetzt wies es noch mehr Knicke auf. Für einen Moment rügte ich mich selbst, dass ich es anders hätte transportieren sollen oder wenigstens noch einmal glätten, bevor ich es vorlegte. Denn jetzt sah nicht nur ich zwischen all den Schnöseln schäbig aus, sondern auch mein Ticket. Aber die Angst, dass es mir jemand stahl oder ich es verlegte, war nach dem Faustschlag von Peter zu groß gewesen.
Ich schob das Ticket über den Tresen. Die Frau, die hinter dem Schalter saß, rümpfte die Nase. Erst blickte sie mich, dann das Ticket an. Auch wenn sie es nicht aussprach, wusste ich, welche Fragen ihr auf der Zunge lagen: Woher hast du das? Wie kannst du dir das leisten? Wem hast du es gestohlen?
Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass sie sogar ein Recht dazu hatte, so über mich zu denken. Es war die Wahrheit, wenn ich es genau betrachtete. Aber mir war auch bewusst, dass sie es aus reiner Oberflächlichkeit dachte. Also reckte ich das Kinn und versuchte, selbstbewusster zu wirken, als ich es war. Ich musste diese Show nur für ein paar Sekunden aufrechterhalten. Danach konnte ich wieder zusammensacken.
„Gibt es ein Problem mit meinem Ticket?“ Ich lächelte die Frau hinter dem Schalter an.
Sie murrte, aber dann stempelte sie das Ticket ab und schob es mir wieder unter der Glasscheibe hindurch.
„Kai 19. Gute Reise. Nächster!“
Ich nickte und lächelte erneut. Als Antwort kassierte ich lediglich einen eiskalten Blick. Warum auch immer wollte ich einen guten Eindruck hinterlassen. Wahrscheinlich, weil mir die Angst immer noch im Nacken saß, dass mich jemand rausfischte. Sie konnten mir zwar nicht nachweisen, dass ich dieses Ticket gestohlen hatte, aber es gab auch keinen Beweis, dass es mir gehörte. Erst hatte ich mich gefreut, dass es nicht personalisiert war. Doch jetzt, da es mir gehörte – wenn auch unrechtmäßig – wünschte ich, dort könnte einfach mein Name stehen.
Auf dem Weg zum Kai 19 verdichtete sich die Fülle an Flüchtlingen. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so viele Menschen auf einem Haufen gesehen hatte. Selbst große Städte, wie Hamburg, hatten massig an Einwohnern verloren. Die meisten Häuser standen leer, aber hier, hinter den Absperrungen zum Hafen, bekam ich ein Gefühl, wie sich eine urbane Bevölkerung früher angefühlt haben musste. Da ich es nicht kannte, fühlte ich mich eingeengt. Zu meiner Enttäuschung spürte ich außerdem nichts davon, in der Masse zu verschwinden. Ich hatte gehofft, dass ich, sobald ich mich unter die Leute mischte, unsichtbar werden würde. Aber dem war nicht so. Auch jetzt kassierte ich immer noch Blicke. Manche gaben sich Mühe, sie zu verstecken, andere starrten mich direkt an. Ich bildete mir sogar ein, dass um mich ein Bogen gemacht wurde. Als hätten sie Angst, meine Nähe wäre pures Gift. Wer hätte gedacht, dass man sich selbst inmitten von so vielen Menschen einsam und verlassen fühlen konnte.
© Marietheres Kumpf 2022-08-31