XVI – Die Frauschaft

Lisa Knitt

von Lisa Knitt

Story
London

„Ich tat das Undenkbare, Mr. Holmes! Ich schloss mich mit elf Jahren meinem Bruder auf See an, um von ihm zu lernen. Francis glaubte an meine Vision, und wir wollten gemeinsam Pläne schmieden, um unseren Vater zu untergraben. Mein Vater wähnte mich in einem Mädcheninternat, aber mein Bruder meldete mich bald wieder ab und nahm mich mit auf eine Reise nach Indien. Francis bezahlte diese Tat mit seinem Leben.“ Holmes blickte sie fassungslos an. Offenbar hatte auch er mit dieser Wendung nicht gerechnet.
„Es ist wahr, Mr. Holmes. Mein Vater ist der Mörder meines Bruders. Als wir nach einem Jahr zurückkamen, war er außer sich vor Wut. Er erschoss meinen Bruder eigenhändig und sperrte mich für Jahre in diesem Haus ein. Was glauben Sie, warum ich nie geheiratet habe? Erst vor drei Jahren ließ er mich wieder ausgehen. Ich begann sofort, einen Vertrauten für meine Pläne zu suchen, die ich nie aufgegeben hatte. Und ich fand ihn in James.“ Wie aufs Stichwort trat der junge Mann in den Raum, der uns heute Vormittag in der Spelunke aufgesucht hatte. Er hatte vor nur wenigen Minuten noch auf den Commodore und mich geschossen. Miss Anna beruhigte ihn, als er uns sah. Er nahm ihre Hand, und sie fand die Kraft, ihre unglaubliche Geschichte zu beenden.
„Da ich selbst nicht zur See fahren konnte, sammelte James eine Mannschaft zusammen.“
„Eher eine Frauschaft“, schmunzelte Holmes und blickte in die Runde. Dort sahen wir furchtlose Gesichter entschlossener junger Damen.
„So ist es. Schnell gewannen James und ich Anhängerinnen. Es war ein Wagnis, überhaupt eine Frau auf ein Schiff zu schmuggeln, geschweige denn viele. Die Frauen durften nicht auffallen, mussten die Abläufe auf See auswendig lernen und außerdem mit Waffen umgehen können. Ich organisierte währenddessen Rettungsboote, die die Frauen und James nach dem Versenken des Schiffes an Land brachten. James meldete einfach ein paar der ertrunkenen Matrosen als gerettet.“
„Ich nannte mich selbst Francis“, sagte der junge Mann, „zu Ehren von Annas Bruder. Dieses pathetische Gehabe hätte ich wohl besser sein lassen sollen. Sonst wäre die Situation jetzt eine andere, und Sie hätten nie herausgefunden, was hinter all dem hier steckt.“
„James, Sie sind ein mutiger und treuer junger Mann“, meinte Holmes und wandte sich an alle Anwesenden, „jede und jeder von Ihnen hat das gemeinsame Vorhaben mutig unterstützt.“ Holmes zog seinen Hut vom Kopf. „Sie alle haben es mit einer ganzen Mannschaft an Seeleuten aufgenommen und gesiegt. Ich heiße nicht gut, was Sie getan haben. Sie haben Menschen selbst gerichtet – das verurteile ich zutiefst.“ Alle im Raum hielten den Atem an.
„Dennoch“, fuhr er fort, „hat auch Commodore Clarkson unendlich viel Leid über das Leben vieler Menschen gebracht. Er hat Müttern ihre Töchter geraubt, er hat junge Frauen versklavt und verkauft, und dafür gehört er mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft. Es wäre mir eine Ehre, Miss Anna und James, Sie und all diese mutigen Frauen im Gerichtsprozess gegen Commodore Clarkson zu unterstützen. Sie finden uns – Dr. Watson und mich – in der Baker Street 221b. Stets zu Ihren Diensten!“ Und damit verließen wir, Holmes und Watson, das Haus eines Mannes, der in seinem ganzen Leben nie wieder in Freiheit kommen sollte.


© Lisa Knitt 2024-08-31

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich