von Jennifer Corazza
Seit gut zehn Wochen bin ich nun in Atlanta. Klingt wenig, ist es aber nicht. Jeder Tag zieht sich wie die Musical-Episode der âGilmore Girlsâ. Vor allem wenn dieser aus nichts anderem besteht, als mir fĂŒr jede vollbrachte Arbeitsstunde ein Dr. Pepper Light und einen Erdnusssnack zu gönnen und abends bei einer SchĂŒssel Cheerios den noch gequĂ€lteren Seelen von âGreyâs Anatomyâ zuzusehen. Sozialkontakte herstellen, scheint hier ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Die innigste Freundschaft, die ich bisher knĂŒpfen konnte, ist jene mit den Baristas bei Starbucks. Die geben mir fĂŒr mein tĂ€gliches Porridge, das 2008 noch nicht ahnen kann, welchen Social-Media-Hype es einmal erleben wird, statt wie vorgeschrieben nur einem Topping alle drei mit auf den Weg: braunen Zucker, TrockenfrĂŒchte und NĂŒsse.
Um dem bevorstehenden Arbeitstag irgendetwas Positives abgewinnen zu können, habe ich vor einigen Wochen begonnen, meine wichtigste Mahlzeit in den weichen Fauteuils des Kaffee-Riesen einzunehmen. Dabei sitze ich meist allein, schreibe in mein Tagebuch und warte, ob mir jemand Interessantes begegnet, der mich die Einsamkeit, die diese groĂe Stadt mit sich bringt, fĂŒr kurze Zeit vergessen lĂ€sst. Bis auf Kendol, der mir einmal gestehen wird, gelegentlich Crystal Meth zu konsumieren, ist dieses Unterfangen allerdings von nur wenig Erfolg gekrönt.
Als Mitarbeiterin einer Firma fĂŒr Studenten- und Lehreraustausch manövriere ich daher gelegentlich die Kundschaft in freizeitliche Treffen, um auch andere Seiten Atlantas abseits der Lenox-Shopping-Mall kennenzulernen, die der einzige Ort ist, den ich als fĂŒhrerscheinloser Mensch barrierefrei erreichen kann. ĂuĂerst befruchtend waren diese Treffen bislang nicht. WĂ€hrend Wolfgang nach dem Kinobesuch verabsĂ€umte mich nach Hause zu bringen, da er sein Auto in der weitlĂ€ufigen Tiefgarage nicht mehr auffinden konnte, starrte mir Johannes, der doch eigentlich gar keinen Hunger hatte, beim Abendessen so lange auf den Teller, bis er sich in einem Moment meiner Unachtsamkeit eine Tomatenscheibe stibitzte. In Wien, als ich mir meine Freunde noch aussuchen konnte, hĂ€tte ich ihm dafĂŒr die Hand abgebissen.
Eines Nachts weckt mich plötzlich der Feueralarm. Nicht mal in Ruhe schlafen darf ich hier. Noch im Pyjama werde ich von uniformierten Menschen auf die StraĂe getrieben. Mein Telefon bleibt in der Wohnung â jemanden anrufen hĂ€tte ich sowieso nicht können. AuĂer Kendol, dem ich im Dunkeln nun wirklich nicht hĂ€tte begegnen wollen. Also stapfe ich los zum einzigen Ort, der mir in Atlanta bisher immer Zuflucht gespendet hat. Und tatsĂ€chlich, die erste Schicht ist bereits da, befĂŒllt die Sirupflaschen und reinigt die SiebtrĂ€ger. Und obwohl ich kein Geld dabei habe und bei Gott schon einmal angemessener gekleidet war, bekomme ich auch in diesen frĂŒhen Stunden mein Porridge. Und einen Venti CafĂ© Latte oben drauf.
© Jennifer Corazza 2020-08-11