von Walter Weinberg
Außen am Stephansdom links neben der Apsis entdeckt man die Armenseelennische, in deren Mitte auf einer Halbsäule eine eindrucksvolle „Ecce Homo“-Büste steht, die im Volksmund „Zahnweh-Herrgott“ genannt wird. Die mittelalterliche Skulptur zeigt den leidenden Christus mit Dornenkrone inmitten eines farbenprächtigen barocken Fegefeuerbildes mit der Muttergottes im Himmel. Der schmerzverzerrten Jesus-Figur wird nachgesagt, sie könne den zu ihr betenden Gläubigen die Zahnschmerzen nehmen! Der Jesus voller Schmerzen befand sich ursprünglich am Friedhof von St. Stephan, der sich an der Südseite des Doms befand. Nachdem der Friedhof aufgelassen wurde, brachte man die Figur des dornengekrönten Gottessohnes an der äußeren Ostwand an. Eine Legende erzählt, dass die damals als „Heiland im Elend“ bekannte Figur aufgrund seines leidenden Ausdrucks von betrunkenen Studenten verspottet wurde. Jedes Jahr zu Ostern schmückten gläubige Frauen das Haupt des leidenden Christus mit einem Blumenkranz, den sie mit einem weißen Tuch um das Gesicht der Figur befestigten und am Kinn verknoteten. Als die Betrunkenen das Gesicht Jesu mit dem weißen Tuch über seinen Backen erblickten, brachen sie in lautem Gelächter aus! Sie waren der Meinung, der Herrgott hätte wohl starke Zahnschmerzen, weshalb ihm ein Tuch umgebunden wurde! Als die Studenten zu Hause in ihren Kammern ins Bett fielen, bekam einer nach dem anderen plötzlich heftige Zahnschmerzen. Sie fanden sich schlaflos wieder zusammen und einer der 3 meinte schuldbewusst: „Ich glaube, ich weiß, woher unsere argen Schmerzen kommen. Wir haben in der Nacht über den Herrgott gespottet und jetzt müssen wir dafür büßen!“ Die beiden anderen wurden noch blasser und meinten reuig, dass sie sich beim Herrgott dafür entschuldigen müssten. Sofort brachen die 3 auf und eilten in Zahnwehtücher gehüllt zurück und knieten reumütig vor der Statue und baten um Verzeihung. Gleich darauf merkten sie eine Erleichterung der Zahnschmerzen. Vorsorglich beteten sie noch eine Weile, bevor sie ihre Tücher abnahmen. Ihr gemeinsames Flehen wurde von anderen Menschen belauscht. Rasch verbreitete sich die Geschichte von der wundersamen Heilung von den Zahnschmerzen. Seit diesem Tag beteten viele Wiener vor der Statue und hofften, von ihren Schmerzen befreit zu werden. Sie vertrauten dem Heiland, der selbst alles menschliche Elend auf sich genommen hatte, aber auch alle anderen irdischen Sorgen und Mühen an, um davon befreit zu werden. Weil viele Gebete vor allem bei heftigen Zahnschmerzen erhört wurden, hat sich der Name „Zahnweh-Herrgott“ bis heute gehalten! Ein paar Meter weiter links entdeckt man ein weiteres Fresko an der Domaußenwand. Der künstlerische Unterschied zum barocken Fegefeuer-Fresko ist klar zu erkennen. Hier handelt es sich tatsächlich um originale mittelalterliche Darstellungen der Passion Christi. Heute können wir nur mehr diese beiden Fresken bestaunen, aber im Mittelalter waren alle gotischen Kathedralen flächendeckend bemalt. Das belegen französische Bücher aus dem Mittelalter, in denen regelrecht geschwärmt wurde, wie farbenprächtig Notre Dame in Paris aus vielen Kilometern Entfernung am Horizont erschien. In Augenhöhe wurden hauptsächlich Bibelszenen dargestellt, damit die Gläubigen, die großteils nicht lesen konnten, Geschichten aus der Bibel betrachten konnten. Darüber wurden die Mauern mit gotischen Ornamenten geschmückt sowie die Heiligenstatuen lebensnah bemalt.
© Walter Weinberg 2024-08-31