von Irene Wallner
Ohne zu wissen wohin, irrte sie durch die Straßen. Vorbei an blinkenden Leuchtreklamen. Ein Modell mit makelloser Haut warb für Make-Up. Anna sah in das Schaufenster vor ihr. Sie sah schlecht aus. Ihr teurer Maskara war wasserfest, Tränen waren aber zu viel für ihn. Wie lange schwarze Bäche schlängelte sich die Farbe an ihren Wangen entlang und bildete kleine Seen der Trauer unter ihren Augen. Da konnte auch das beste Make-Up nichts ausrichten – sie hatte ihren besten Freund verloren.
Anna wusste, dass dieser Tag kommen würde. Doch ihr Herz konnte damit nicht umgehen. Alex und sie kannten sich seit Kindertagen, doch der Tod konnte die stärksten Bande zerreißen als wären es nur einfache Seidenschnüre.
Heute Abend war es passiert. Alex wusste, dass die Zeit gekommen war. Anna und er verbrachten den Tag zusammen. Er sah heute gut aus, sein Gesicht war nicht so blass, und seine Augen leuchteten. Sie machten einen Spaziergang durch den Park, spielten sein Lieblingsspiel und gingen in das Restaurant, das sie beide für das Beste der Stadt hielten. Für diesen Tag waren all das Leid und der Schmerz vergessen. Es war wie früher.
Plötzlich wurde Alex ernst. Obwohl es ihm heute gutzugehen schien, merkte Anna erst jetzt, dass er schwach und zerbrechlich war. Seine Hände waren knochig und kalt. Alex gab ihr einen Brief. Anna sollte ihn erst öffnen, wenn er nicht mehr auf dieser Erde weilte. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte so etwas nicht hören. Doch Alex war es wichtig, dass Anna den Brief an sich nahm.
Es war sein letzter Wunsch.
Zurück in der Klinik wurde Alex müde. Anna ließ ihn kurz alleine – und diesen Moment nutzten die Engel, um Alex zu sich zu holen. Anna war geschockt und erleichtert zugleich, er sah so friedlich aus. Sie wusste, dass er nun an einem Ort war, an dem er nicht mehr leiden musste. Doch er war nicht mehr bei ihr. Sie war alleine.
Der Brief, Anna hatte ihn fast vergessen.
Liebe Anna,
nun ist es soweit. Wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr hier. Ich weiß, du hast große Angst davor – doch das brauchst du nicht. Mein Leben war erfüllt, denn ich hatte das Glück mit dir befreundet zu sein. Du hast selbst die trübsten Tage mit deinem Strahlen erfüllt, mich aufgefangen, wenn ich selbst nicht mehr stehen konnte. All die Jahre warst du an meiner Seite und hast mein Leid mit mir getragen. Dafür möchte ich mich von Herzen bedanken! Und Anna, du bist nicht allein. Ich bin zwar nicht mehr hier, bei dir, doch ich bin zwischen den Welten und werde immer auf dich achten. Du hast jetzt einen persönlichen Schutzengel. Nichts wird unsere Freundschaft je zerstören können – auch nicht der Tod. Sei bitte nicht traurig. Mir geht es jetzt gut. Dein Alex
Die Tränen liefen ihr in Strömen über das Gesicht, doch Anna lächelte und sah in den Sternenhimmel. Dort oben war er nun und wachte über sie. Es war wie Magie, dieser Augenblick kam ihr vor wie Zauberei. Und Anna wusste, dass nur wenigen Menschen dieser Zauber geschenkt wurde – der Zauber einer wahren Freundschaft.
© Irene Wallner 2022-03-20