Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken

Irene Gramal

von Irene Gramal

Story

Ira hatte furchtbare Angst, Sascha in seinem schrecklichen Zustand zu sehen und vor allem auch zu befragen. Aber zu viele Dinge lagen hier im Argen und sie wusste tatsächlich nicht, wie sie der Bank gegenüber reagieren sollte beziehungsweise was es zu tun galt. Mit enorm flauem Magen und leicht zitternd machte sie sich mit ihrem Hund Bruno – einer äußerst divenhaften, aber so entzückenden Save-Bracke – auf den Weg ins LSF (umgangssprachlich für Landesnervenklinik Sigmund Freud). Zu dieser Klinik gehört ein wunderschöner, riesiger Park mit alten Bäumen, unzähligen Spazierwegen und vielen Bänken zum Verweilen.

Sascha wurde anscheinend mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Er zeigte keinerlei Emotion in seinen Gesichtszügen. Sie küsste ihn auf den Mund, umarmte ihn inniglich, doch seine Augen waren leer. All die Wärme und Liebe, die er ausstrahlte, da war nichts mehr. Er ergriff ihre Hand und schlug vor, mit Bruno im Park eine Weile spazieren zu gehen und sich auf eine Bank zu setzen. Schweigend gingen sie vor sich hin, bestaunten die wunderschönen alten, hohen Bäume und erfreuten sich ein wenig an der Natur. Wenigstens der Hund und Ira. Denn Sascha nahm alles nicht so richtig wahr. Sie setzten sich auf eine Bank. Ira hielt seine Hand, blickte ihn an und sagte: „Sascha, ich möchte, dass du weißt, dass bei allem, was nun passiert ist und in weiterer Folge passieren wird, ich dich – trotz allem – von ganzem Herzen liebe. Egal, was kommen mag, wir stehen das gemeinsam durch. Bitte vertraue mir. Hab keine Angst!“ Sascha schaute Ira kurz wortlos in die Augen und senkte seinen Blick zu Boden. Sie schlug vor, sich in das kleine Café hinter der Schlaganfallstation zu setzen. Dort gab es einen reizenden Gastgarten für Besucher und Patienten.

Ira brannte es unter den Fingernägeln zu erfahren, was es mit dem Schreiben der Bank auf sich hat. Sie konnte nicht mehr länger warten und legte Sascha diesen Brief vor. „Sascha, bitte erkläre mir, worum geht es hier? Hast Du wirklich für Deinen vermeintlichen Freund eine Bürgschaft unterschrieben und die Bank fordert nun von Dir die volle Summe ein, nachdem er nicht mehr zahlungsfähig ist? Kann das sein? Und hast Du hier zweimal eine Bürgschaft unterschrieben? Das hast Du nicht gemacht oder doch?“ Sascha antwortete nur mit einem kurzen „Ja.“ Er war viel zu voll mit Psychopharmaka und zu depressiv, um ein Gespräch mit Ira führen zu können. Sie drohte innerlich tot vom Sessel zu fallen. Mit dieser geleisteten Unterschrift zerstörte er nicht nur sein eigenes Leben, sondern riss auch Ira, seine langjährige Lebensgefährtin, mit in den Abgrund. Sie bemühte sich redlich, sich nichts anmerken zu lassen und überspielte die Situation. Sie fragte nur: „Soll ich mich um all diese Angelegenheiten kümmern, möchtest Du das?“ „Ja, bitte.“ Sascha war sehr aufgewühlt, wirkte sichtlich nervös. Er brauchte nun unbedingt Ruhe. Ira küsste ihn und fuhr mit Bruno nach Hause. Aber wie lange ist das noch ihr gemeinsames Zuhause?

© Irene Gramal 2022-08-04