Zeit des Erwachens

Stefanie Unbehauen

von Stefanie Unbehauen

Story

Endlich ist er angekommen. Nach zwei langen Jahren. Er schließt für einen Moment die Augen und stellt sich vor, wie seine wunderschöne Frau ihn begrüßt. Bestimmt glaubt sie ihn für verloren. So unglaublich verzweifelt muss sie sein. Er sieht vor seinem geistigen Auge, wie sie die Tür aufmacht und ihn anblickt. Erst ungläubig, dann geschockt, dann mit einer Mischung aus Erleichterung und grenzenlosem Glück. Sie würde die Arme um ihn schlingen, so wie sie es immer getan hatte und ihn küssen. Erst auf die Stirn, dann auf seine Nasenspitze und schließlich auf den Mund. Ihre Hände würden dabei sein Gesicht halten, so zärtlich wie sie es all die Jahre getan hatten. »Sam! Endlich bist du wieder da. Ich habe dich so vermisst«, würde sie mit tränenerstickter Stimme sagen. Bei dieser Vorstellung kommen ihm selbst die Tränen. »Männer weinen nicht«, hatte sein Vater ihm immer gesagt. Doch wenn man nach zwei Jahren des Umherirrens endlich sein Zuhause gefunden hat, so würde sein toter Vater ihm wohl die ein oder andere Träne verzeihen.

Langsam geht er die Auffahrt zu seinem Haus entlang. Rechts von ihm glänzt der alte silberne Mustang im Sonnenlicht. Er geht die Stufen zur Veranda hoch und blickt zum Wohnzimmerfenster hinein. Da ist Amy. Ihre gewellten, goldblonden Haare würde er nicht einmal auf dem Sterbebett vergessen können. Doch da ist ein Arm um sie. Wer ist das? Er geht näher ans Fenster heran. Ein Stich geht durch sein Herz. Nein. Das kann nicht sein. Er erinnert sich an ihre Worte: »Ich werde für immer dir gehören. Für die nächsten tausend Leben.« Hat sie sich schon längst für einen anderen Mann entschieden und mit ihm abgeschlossen? Sam dreht sich um und steigt langsam die Stufen hinab. Er geht leicht roboterhaft, zu sehr sitzt ihm der Schock in den Gliedern.

Mitten auf der Straße bleibt er stehen. Amy und Sam, für immer. Er erinnert sich an seine Hochzeitsnacht, den Abend des Kennenlernens, ihre Motorradreisen über den Highway. Doch da ist noch etwas anderes. Eine Erinnerung, zu der er keinen Zutritt hat. Die Angst versperrt ihm den Weg. Plötzlich ein helles Licht. Ein LKW, der immer näher kommt. Er schließt die Augen. Noch nie in seinem Leben hat er ein so helles, reines Licht gesehen wie dieses. Es ist wie aus einer anderen Dimension. Der Lastwagen kommt immer näher, doch Sam bewegt sich nicht. Der Aufprall ist laut, aber nicht so hart wie erwartet. Sam wird durch die Luft geschleudert und kommt auf dem Rasen seines Hauses auf.

Während das Leben ihn verlässt, öffnet er im Gedanken eine Tür und betritt ein Krankenzimmer. Er sieht sich selbst, blass und dürr, an Schläuchen angeschlossen, die ihn beatmen. Amy sitzt an seinem Bett, schluchzend. Sie hält seine Hand. Das Bild wird immer heller, bis es völlig weiß ist. Seine Schmerzen sind weg. Er sieht sich und Amy auf einem Motorrad, beide jung, Amy mit ihren langen goldgelben Haaren, ihre Arme um ihn geschlungen. Sie fahren über den Highway, bis sie immer kleiner werden und schließlich verschwinden.

© Stefanie Unbehauen 2022-08-28

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