Zeit ist kostbar!

Andrea Stix

von Andrea Stix

Story

Wer kennt sie nicht, unsere Standardfloskeln „ich habe/hatte keine Zeit“ oder „ich hätte gerne (mehr) Zeit für“

Dabei bin ich überzeugt, dass sich kaum Jemanden bewusst ist, dass Zeit rund um die Uhr zur Verfügung steht und eigentlich nur eine Maßeinheit für unser Zusammenleben ist.

Meistens verwendet man seine Zeit für das, was einem wichtig ist. Einem Hobby nachgehen erscheint wichtiger als der Besuch beim betagten Vater. Der Fußballplatz ist lustiger als die Hausaufgaben. Und die Ausrede „wenn ich Zeit hätte, dann“ hängt oft damit zusammen, dass wir etwas nicht wirklich wollen oder nicht genug Willensstärke aufweisen, es umzusetzen.

Wenn ich in meinen Gesprächen mit pflegenden Angehörigen erwähne, dass sich durch Zeit nehmen schon sehr viel im Umgang mit Demenz verbessern kann, dann sehe ich immer wieder Fragezeichen in den Gesichtern.

Dass es offenbar doch nicht so einfach ist Zeit zu haben, möchte ich an zwei alltäglichen Beispielen erklären:

– Straßenverkehr. Die Ampelfarbe wechselt auf grün und der erste Wagen fährt nicht gleich los. Ihm ist ein Hupkonzert der hinter ihm stehenden Autofahrer sicher. Keine Sekunde darf verschenkt werden.

– In den öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Situation nicht viel anders. Anstatt, dass sich die Fahrgäste mal gemütlich zurücklehnen, sind sie in ihr Handy vertieft, tippen SMS oder rufen die neuesten Nachrichten ab. Nur keine Pause!

Immer aktiv sein, sonst gilt man als faul oder als Träumer. So wurde es uns beigebracht. Löcher in die Luft starren oder einfach nur in den blauen Himmel schauen gilt als Zeitverschwendung.

Und nun heißt es also, Zeit für einen Menschen mit Demenz aufzubringen. Ein Spaziergang steht an, draußen ist es kalt, der Betroffene muss angezogen werden. Gerade im Fall einer fortgeschrittenen Erkrankung kann das eine längere Prozedur bedeuten, denn die motorischen Fähigkeiten des Kranken lassen mit der Zeit nach. Wenn der Betreuer nun auf seinem eigenen Tempo besteht, ist der Konflikt vorprogrammiert. Kaum etwas schadet in dieser Situation so sehr wie Ungeduld, der nervöse Blick auf die Uhr.

Es lohnt sich, Menschen mit Demenz jene Zeit zu geben, die sie brauchen 1):

Frau Gruber wurde das Mittagessen verabreicht. Trotz ihrer fortgeschrittenen Demenz waren ihre Hände und Arme noch sehr beweglich. Ich war überzeugt davon, dass Frau Gruber noch gut einen Löffel halten konnte und gab ihr diesen als die Jause serviert wurde. Gemeinsam haben wir ein Stück vom Kuchen genommen und zum Mund geführt. Bald hat sie es ohne meine Hilfe geschafft.

Ja, es war anstrengend für Frau Gruber. Aber das Gefühl, im eigenen Tempo essen zu können, hat ihr Berge gegeben. Alles was dazu notwendig war: sich für diese Aktivität Zeit zu nehmen (die dem Pflegepersonal in Institutionen leider aufgrund von chronischer Unterbesetzung oft nicht zur Verfügung steht)

® Andrea Stix

1) Anmerkung der Autorin: wahre Begebenheit, Name und Ort wurden aus Datenschutzgründen geändert

© Andrea Stix 2020-04-15

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