Zeit schenken

Viqui

von Viqui

Story

„Mama, Mama“, rief Arno ganz aufgeregt, als er von der Schule nach Hause kam. „Jetzt weiß ich endlich, was ich Opa schenken kann!“ Die Mama stand in der Tür zwischen Küche und Garderobe, in der einen Hand bewaffnet mit einem Geschirrtuch, in der anderen einen nassen Teller. Noch bevor sie etwas erwidern konnte, warf Arno seine Schultasche auf die Bank in der Garderobe, schlüpfte aus seinen Schuhen und stürmte hinauf in sein Zimmer. „Mama, haben wir noch irgendwo Bastelpapier, ich brauche es ganz dringend, ich muss Opa etwas basteln“, kam es von oben herunter. Ihrer Stimme wieder mächtig erwiderte die Mama: „Lass uns gemeinsam in Ruhe Mittagessen und du erzählst mir von deiner Idee.“

Klein Arno erschien oben auf der Treppe mit herunterhängenden Schultern. „Aber Mama, du hast doch selbst gesagt, dass es Opa nicht so gut geht und wir ihn vielleicht nicht mehr so lange sehen, ich muss mich doch beeilen.“ Die Mama lächelte, setzte sich auf die Bank in der Garderobe und beteuerte Arno es ihr gleichzutun. Arno watschelte die Treppe herunter und setzte sich ungeduldig neben seine Mama. „Im Krankenhaus, da gibt es Besucherzeiten, weißt du. Heute dürfen wir Opa erst um 15 Uhr besuchen. Bis dahin haben wir beide gegessen und noch genügend Zeit, ein Geschenk zu basteln. Versprochen!“ erklärte die Mama und fuhr Arno mit der Hand über seinen Kopf.

Drei Stunden später standen Arno und seine Mama im Zimmer im Krankenhaus, in dem Arnos Opa lag. Er sah nicht gut aus, fand Arno. Er hatte abgenommen und überall so komische Flecken im Gesicht. „Opa, schau, ich hab dir etwas mitgebracht“, sagte er gleich und zog aus einer Tasche eine runde Scheibe. Die Scheibe war in zwölf gleich große Kuchenstücke geteilt und hatte einen großen Zeiger in der Mitte befestigt. Es sah aus wie eine analoge Uhr, nur gab es keine Zahlen, stattdessen befanden sich darauf Beschreibungen von Tätigkeiten wie „mit Opa einen Kakao trinken“, „mit Opa spazieren gehen“, „Opa zuhören“ oder „mit Opa herumblödeln“. Arno hatte neben jede dieser Tätigkeiten ein kleines Bild gemalt.

„Jeden Tag nach der Schule komme ich zu dir, Opa, und du kannst dir aussuchen, was wir machen sollen. Du musst nur den Zeiger auf die Tätigkeit stellen. Unsere Lehrerin hat heute in der Schule gesagt: Das schönste Geschenk, das man einem Menschen machen kann, ist, Zeit zu schenken. Ich möchte dir das Schönste schenken, was es gibt, Opa. Ich möchte dir Zeit schenken“, erklärte Arno. Opa betrachtete die Scheibe und eine kleine Träne kullerte ihm dabei über die Wange.

So kam es, dass klein Arno jeden Tag nach der Schule mit Opa etwas unternahm. Leider ging es Opa von Tag zu Tag schlechter und manche Tätigkeiten auf der Scheibe waren für Opa nicht mehr möglich. Bis Opa irgendwann nur noch im Bett liegen konnte, selbst sprechen ging nicht mehr gut. Daher stand der Zeiger jeden Tag auf der gleichen Tätigkeit: „Opa eine Geschichte vorlesen“. Und das tat Arno; jeden Tag saß er neben seinem Bett und las. Opa hatte dabei immer ein Lächeln auf den Lippen, oft schlief er ein. Und eines Tages schlief er ein und wachte nicht mehr auf. Aber das Lächeln auf seinen Lippen war noch da, denn sein Enkel hatte ihm das wertvollste auf der Welt geschenkt, das es gibt: Zeit!

© Viqui 2023-11-17

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Inspirierend, Traurig