von Anatolie
Tröpfel Tröpfel. Seit Tagen hat uns dieses Schmuddelwetter fest im Griff, ein Regentief schiebt das nächste nach. Die Vögel scheint das nicht zu stören. Die Amsel am Dach trällert und pfeift schon seit Stunden, sie wird es weiter bis zum Abend tun. Und früh morgens, bevor die Straßenlichter ausgehen, hebt sie ihr Gezwitscher wieder an.
Neulich gönnte ich mir einen richtigen Faulenzer-Tag. Die warmen Socken wurden wieder aus der untersten Schranklade hervorgekramt. Eine heiße Schoko neben mich gestellt, Kuschelpolster zurechtgerückt und mein Tablet auf den Bauch gekrallt. Ich lese Story.one, im Liegen. Aus den Boxen meines Internetradios dudeln fremdländische, mir wohlvertraute Melodien. Seit meiner Griechenland-Zeit, vor mehr als 13 Jahren, gebe ich mich noch immer gern dieser Melancholie alter Chansons von damals hin. Zeitlose Lieder, die mich an Nachmittage mit Zikadengesang und an nächtliche Spaziergänge durch die belebten Straßen von Athen erinnern. Ich kann mir so schwer vorstellen, wie es bis vor kurzem wohl dort war. Wie es hätte sein können. Hätte mich die Lust, von hier abzuhauen, erst viele Jahre später gepackt. Oder wäre ich einfach dort geblieben. Die Menschen in diesem Land durften über viele Wochen ihr Heim nicht verlassen. Es gab keine Sondergenehmigungen so wie hier – zur sportlichen Betätigung mal schnell um den Häuserblock gejoggt. Wer dringend etwas brauchte, wie Lebensmittel, Hund Gassi führen oder andere Menschen versorgen, musste eine sms verschicken. Ein Verlassen des Hauses ohne Registrierung wurde streng geahndet.
Welches Glück ich doch habe, nicht in Griechenland kleben geblieben zu sein! Was würde ich heute tun, was hätte ich getan – in einer Situation wie damals, als mein Ex, bei dem ich noch eine Zeitlang wohnte, mich ständig angegiftet hat? Nächtens bin ich oft für Stunden planlos durch Athen gelaufen, bis sicher war, dass er entweder schon schlief oder in seinem Stammcafe weilte. Dann hatte ich wieder etwas Ruh. Und Luft zum Atmen. Ich will nicht wissen wie viele Tragödien sich dort abgespielt haben, hinter staatlich verordnet verriegelten Türen. In jüngsten Zeiten wie diesen.
Ich bin schon wieder abgeschweift. Eigentlich wollte ich über den Müßiggang schreiben. Das süße dolce far niente. Wird uns vonseiten der Gesellschaft nicht eingedrillt, dass ein Verlottern-Lassen von Zeit eine Schande sei? Arbeitsscheu, asozial; nur ein Mensch, der viel leistet, ist auch viel wert?
Ich arbeite an zwei bis vierTagen in der Woche. Mir reicht das zum Leben. Geld ist zwar wichtig, aber Zeit ist kostbarer. Für mich. Es ist noch nicht allzulange her, da wurde gerackert bis mein Schädel kurz vorm Burnout kollabiert ist.
Ich habe Zeit zum Nachdenken, zum Lesen und zum Geschichten schreiben. Möge dies so bleiben! Ich empfinde das als ein Geschenk. Und doch. Es vergeht kein Tag, wo ich nicht zumindest einmal den Anflug eines schlechten Gewissens empfinde. Weil man ja sagt, faul sein ist eine Sünde.
© Anatolie 2021-05-27