von lavoce
Paula sitzt am Boden vor einem Einkaufszentrum. In der Hand hält sie ein Schild mit der Aufschrift: ZEIT ZU VERSCHENKEN.
Die Leute eilen achtlos an ihr vorbei. Ihrer Aufmachung nach ähnelt sie einer Bettlerin, die um Almosen bittet. Und tatsächlich ist schon der eine oder andere Euro vor ihren Füßen gelandet. Lieblos hingeworfen. Von jemandem, der sein Gutmensch-Image ein wenig aufpolieren, sein schlechtes Gewissen beruhigen will. Paula stört das zwar, kann sie von ihrem Vorhaben aber nicht abbringen. Sie will so lange hier sitzen bleiben, bis sie ihren Auftrag erfüllt hat: Mindestens einem Menschen Zeit zu schenken. Nur wie soll man jemandem Zeit schenken, der nicht einmal die Zeit aufwendet, ihr Schild zu lesen?
Ein junger Mann kommt auf sie zu, betrachtet das Schild, schüttelt den Kopf und meint: „Sind Sie verrückt?“ Paula lächelt: „Nicht mehr als andere.“ Das entlockt dem Herrn einen Grinser. „Sie wollen mir also Zeit schenken?“ „Wenn Sie das wollen?“ Kurz aus dem Konzept gebracht und nachdenklich antwortet der Jüngling: „Bin mir nicht sicher.“ „Sie müssen schon wollen. Ich will ja niemanden zwangsbeglücken.“ „Nun gut. Sagen wir, ich möchte. Was tun Sie dann?“ „Ich? Nix.“ „Wie? Nix? Aber dann komm ich ja nicht zu Ihrer Zeit.“ „Es geht nicht um meine Zeit, sondern um Ihre.“ „Um meine? Wieso um meine? Meine hab ich ja schon.“ „Sind Sie sich da so sicher?“
Der Mann tritt von einem Fuß auf den anderen: „Nun gut, was schlagen Sie vor? Haben Sie einen Plan?“ „Ich hab keinen Plan. Aber das tut nichts zur Sache. Die Frage ist, haben Sie einen Plan?“ „Ich hab viele Pläne.“ „Das hatte ich befürchtet.“ „Wie meinen Sie das?“ „Was glauben Sie, wieso ich hier sitze?“ „Um mir meine Zeit zu stehlen?“ „Genau das Gegenteil und … weil ich keinen Plan hab.“ „Ist das gut oder schlecht?“ „Kommt darauf an. Setzen Sie sich doch kurz zu mir.“ „Keine Zeit.“ „Glauben Sie mir, Sie haben Zeit.“ „Nun gut.“ Der Mann setzt sich neben die Frau. Wird aber bereits nach ein paar Sekunden nervös.
„Und was jetzt?“ „Entspannen Sie sich!“ „Wie soll ich mich entspannen, wenn ich auf einem eiskalten Boden vor einem Einkaufszentrum sitze?“ „Warten Sie!“ Paula reicht ihm ihre Decke, auf die er sich dankend setzt. Er beobachtet das hektische Treiben um sich herum und je wurliger es um ihn wird, umso ruhiger wird er innerlich. Wieso sitzt er hier nochmal? Er hat keine Ahnung. Er weiß nur, dass es ihm guttut. Furchtbar gut. Nach gefühlten Stunden wirft er einen Blick auf Paula, die ihn grinsend mustert. Tiefenentspannt steht er langsam auf, bedankt sich bei Paula und geht nach Hause.
Seine Frau blickt erstaunt auf, als er durch die Tür tritt: „Du bist aber früh zu Hause.“
Er grinst nur, nimmt sie in die Arme und küsst sie. Im Stillen dankt er Paula. Er weiß zwar nicht genau wie, aber sie hat ihm die Augen geöffnet.
Die Zeit ist eines unserer kostbarsten GĂĽter.
Was wir damit tun und wie wir sie verbringen, liegt einzig und allein bei uns …
© lavoce 2023-02-28