von Annabel Stenger
Ausschnitt aus Kapitel eins:
Das Wasser sah auf sie herab wie ein König auf seine Untertanen. Dann verfärbte sich die Säule aus Wasser schlagartig von leichtem Blau zu Silber wie der Mond. Die beiden Farbtöne verliefen ineinander als hätte man auf zwei Farbkleckse Wasser verschüttet. Aus den nebeligen Schwaden, die dicht aus der Quelle aufstiegen, formte sich ein goldener Kreis. Er flackerte wie Feuer im Kamin. Sie spürte die starke Wärme, die von dem brennenden Kranz ausging und wich den Funken aus, die auf sie herabstoben. Sie waren kleine Kugeln aus Feuer und brannten in ihren tränenden Augen, die sie sich rieb. Das knisternde Feuer blendete sie und schließlich sprang aus einer lodernden Flamme ein kleines, quadratisches Etwas heraus. Sie konnte es kaum erkennen. Es schwebte noch eine Weile in der Luft, wie in Zeitlupe, sie sah seine schwarzen Umrisse von Flammen umrahmt, dann breiteten sich zwei winzig kleine, perlweiße Flügel, wie von einem Engel, aus und flatterten federleicht nach oben gen Himmel flink wie ein Vogel und dann nach unten zu ihr. Das Mädchen betrachtete es und ihre Augen wuchsen und leuchteten. In ihren Pupillen spiegelten sich der Brunnen und die alte Kirche, davor das fliegende Etwas. Noch nie hatte sie solche Flügel gesehen, das war definitiv kein Vogel, so viel konnte sie jetzt in dem grellen Licht erkennen. Es segelte wie ein Papierflugzeug in Richtung Boden. Große Kreise und Bögen wie ein Adler, der über die Weiten Südamerikas flog, zog es. Das Mädchen machte einen Schritt nach vorne, dann einen zurück und versuchte, das weiße Ding zu fangen. Die zappelnden Flügel lenkten es jedoch taumelnd im Zickzack, sodass es ihrem Blick entglitt, bis es stillhielt. Als sie es vor ihrem Auge sah, streckte sie ihre linke Hand nach vorne und spürte, wie es sanft wie eine Feder in ihrer Handfläche landete. Die weichen Flügel regten sich aufgeregt und versuchten zu entkommen. Der Moment, in dem sie ihren Blick nach unten zu ihrer Hand wendete, verlief wie in Zeitlupe. Alles schien wie in einer anderen Dimension und als wäre die Zeit angehalten worden. Als ihr das geflügelte weiße Ding ins Auge fiel, erkannte sie, dass es sich um einen kleinen zusammengefalteten Zettel handelte. Was da wohl drauf stand? Ihre Finger klammerten sich fest an das Zettelchen und verkrampften vor Aufregung und der Zettel klappte die Flügelchen ein. Mit spitzen Fingern, als könnte sie dabei einen Fehler machen, entfaltete sie das Stückchen Papier. Die Ränder waren zerrissen und versengt von dem Feuer, das den Zettel ausgespuckt hatte. Es öffnete sich wie die Flügel eines Schmetterlings und offenbarte ihr eine Nachricht. Das Papier war leicht gewellt, und die Buchstaben ein wenig verwischt, doch lesen konnte sie noch alles sehr gut.
Ausschnitt aus Kapitel vier:
„Der ist nicht nur schön, der ist magisch!“…„Es ist wunderbar, einfach wunderbar!“ „Was ist denn wunderbar?“ Das Mädchen hätte ihn am liebsten wie einen Schwamm gepackt und all sein Wissen aus ihm herausgepresst. „Zu beobachten, wie andere es erkennen, das ist wunderbar!“ „Was erkennen?“ „Die Grenzen, meine Liebe“, erklärte er, „die Grenzen!“ „Hat dir deine Mutter je etwas über die Zeit erzählt?“… „Ich werde dir nur die Dinge vermitteln können, die ich auch weiß!“, schmatzte er mit Sahne und Erdbeeren gefülltem Mund.
© Annabel Stenger 2024-08-31