In regelmäßigen Abständen sichte ich die sich anhäufenden Zettel auf meinem Schreibtisch. Manche Notiz muss ich mir erst einmal wieder vergegenwärtigen, um ihren Sinn zu erfassen. Den Ort San Pietro in Volta auf Pelestrina Island habe ich mir offensichtlich aufgrund eines Reiseberichts im Fernsehen aufgeschrieben. Irgendetwas muss mich daran fasziniert haben. Weil ich mir bei der Zuordnung nicht mehr ganz sicher bin, gebe ich den Ort in die Suchmaschine ein. Eine Karte klärt mich auf. Es ist eine kleine Insel in der Lagune von Venedig, die dem Lido di Venezia vorgelagert ist. Man könnte sie, würde man dort hinreisen, vom Lido aus mit einer kleinen Fähre erreichen.
Weitere Zettel enthalten Gedichte von Mascha Kaléko und Joachim Ringelnatz. Ich überlege, wo ich diese so aufbewahren kann, dass sie mir nicht verloren gehen. Mein Blick fällt auf „She speaks with a flat voice without any expressions.“ Sofort sehe ich eine Runde englischer Ladies in einer Rosamunde Pilcher Szene beim Tee sitzen. In ihrer Mitte befindet sich eine etwas blässliche alte Dame, die ihre Empörung nicht zeigen möchte, sich eines Kommentars aber nicht verkneifen kann. Bevor ich das vergesse: Habe ich für solche Notizen nicht ein spezielles Vokabelheft? Ein Spruch macht mich nachdenklich: „Je weniger wir wissen, umso weniger zweifeln wir.“ Das passt sogar nicht zu der Äußerung, die ich meinem Professor gegenüber machte, als ich mich vor vielen Jahren in Examensvorbereitungen befand. Dem sagte ich damals völlig verunsichert, dass ich bei allem, was ich dazulerne, feststelle, was ich alles nicht weiß. In diese Erkenntnis hatten sich Zweifel an dem Erlernten eingeschlichen. Die prompte Antwort kam mit einem Lächeln: „Sie bestätigen gerade, was der griechische Philosoph Sokrates lange vor ihnen gesagt hat.“ Das hat mich sehr beruhigt.
Am Bücherbord neben mir kleben zwei Notizzettel. „Wer nicht zweifelt, kann sich auch nicht sicher sein“ steht auf dem einen. Der Astronom und Mathematiker Johannes Keppler hat dies einst geäußert. Es erinnert mich an die Erfahrung damals im ersten Staatsexamen. Als Sammlerin horte ich nicht nur Zettel mit Notizen, die sich zu einer regelrechten Zettelwirtschaft entwickeln und in Abständen von mir sortiert und ausgemistet werden. Ich archiviere auch so manch interessanten Artikel. Wenn ich feststelle, dass ich gar nicht dazu komme, ihn erneut zu lesen, weil Neues an die Stelle rückt, verabschiede ich mich davon. Die Kernaussagen eines Artikels von Navid Kermani habe ich mir notiert. Kermani weist darauf hin, dass das generische Maskulinum im Deutschen, wie „die Leser, die Hörer, die Bürger, die Studenten“ es erlaubt, sich knapper und präzise auszudrücken. Er weist darauf hin, dass es dies in der englischen und in seiner Muttersprache gar nicht gibt. In einer gleichberechtigten Gesellschaft müsste man davon nicht abweichen. Sein Verschwinden hingegen brächte die Gleichberechtigung keinen Schritt voran. Ich finde das nachdenkenswert.
© Dagmar Lücke-Neumann 2023-07-09