von Paul Fehlinger
Wenn ich das Haus für mich allein hatte, kam stets der Moment, in dem ich die Boxen im Wohnzimmer einschaltete. Dann hüpfte ich über das Laminat und sang/rappte die Musik von Linkin Park oder Casper mit. Statt in dem bürgerlich eingerichteten Zimmer fand ich mich auf der Bühne in einer Halle voller Menschen, Lichter und Kameras wieder. Mit 17 erfüllte sich dieser Traum in Miniaturform: Beim Songcontest der Schule performte ich meine Songs. Eigentlich wollte ich wie die anderen nur Lieder covern, doch ich fand den Mut, dies vorzuschlagen, und alle waren begeistert. Die Menge an Schülern, deren Familie und Interessierte schrien den Refrain mit. Dutzende Handys filmten, dreimal mussten wir eine Zugabe spielen, bis sich die Menge beruhigte. Als ich von der Bühne gehen konnte, stürmten Fremde auf mich zu: Fotos machen, Autogramme, Umarmungen. Zuhause angekommen saß ich im selben Wohnzimmer und sann über das Erlebte nach: Ich fühlte die berühmte Leere, wenn man nach einer Show vor so vielen Menschen wieder mit sich allein ist.
Drei Freunde und ich wurden eine lokal bekannte Rapgruppe: Ein paar Konzerte, verkaufte Shirts und digitale Alben. Doch als mich die erste Liebe verließ und sie zu sehr mit der Musik assoziiert war, löschte ich alles. Während wenig später sich jeder Rapper nannte, versank ich in der Literatur: Ich las Kafka, Mann, Hesse und schrieb erste Erzählungen. Schließlich war ich seit Kurzem volljährig und stand vor der quälenden Schicksals-Frage, was denn aus mir werden solle, sodass ich vermehrt mit dem Schreiben der Traurigkeit und Verlorenheit temporär entfloh. Ich reinigte mich von allen Gedanken an den Tod und den Depressionen, indem ich sie halb fiktional niederschrieb. Aber ich setzte auch die Zeit zurück und schrieb zugleich stets etwas, an das ich mich in meiner Sehnsucht nach der ersten Liebe festklammern konnte.
Doch jetzt sitze ich im Büro und schreibe Leitpläne zur Qualitätssicherung im Unterricht, keine Romane. Hatte ich nicht mit 6 bereits mit der Gitarre unterm Arm eigene Texte samt Akkorde verfasst, mit 13 Raplieder, und mit 18 ganze Romane? Tja, nun weiß ich nicht mal mehr, wann ich zuletzt etwas Literarisches fertigbrachte. Doch wenn ich bei der Arbeit gedanklich abschweife, finde ich mich noch immer in Stadien als Musiker oder bei gut besuchten Lesungen als Preisträger wieder. Vielleicht war der Songcontest das einzige Mal, dass ich zu 100% für meine Texte eingestanden war, denn sonst war und bin ich nur am Träumen. Auch heute träume ich, ein bedeutender Künstler zu sein, und träume wie immer von meiner ersten Liebe. Beiden bin ich so fern wie noch nie, hier in diesem Büro. Wahrscheinlich sollte ich kündigen, mich endlich bei ihr melden und beim Einreichen der Manuskripte nicht so schnell aufgeben. Aber es ist eben auch gut möglich, dass ich dafür zu schwach, zu mutlos, zu verfangen in der eigenen Phantasiewelt bin, mit der ich meine einzig wahre Leidenschaft seit Kindertagen verraten habe.
© Paul Fehlinger 2023-02-17