Zugfahrt

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

Es ist früh, als ich den Zug besteige, erstaunlich klar die Luft. Ich blinzele in die verschwenderische Sonne. Ungefragt bin ich in dieses Universum gekommen, zu einer Zeit und an einem Ort, über die ich nicht entscheiden konnte. Eine Weile reise ich nun mit anderen.

Kaum merklich setzt der Zug sich in Bewegung, monotone Landschaften verführen immer wieder zum Schlafen. Die Zugbegleitung ist rührend aufmerksam, kommt mehrmals vorbei, bietet Snacks und Getränke an.

Ich reise – einige kurze Augenblicke mit anderen Menschen, Schwestern, Brüdern, mit meinen Kindern, mit Freunden und Feinden.

Wir alle sind auch mit anderen Lebensformen unterwegs, mit Bakterien, Felsen und Ozeanen, mit Morgenröten, Meteoren, Monden, Planeten und Sterne. Und wir sind unterwegs mit Quarks und Photonen, mit schwarzen Löchern und mit leeren Räumen unvorstellbaren Ausmaßes. Wie vielfältig und bunt doch die Reisegesellschaft ist und wie geheimnisvoll. Und irgendwann werde ich diese Gesellschaft verlassen – sie aber wird weiterziehen, ihr werden sich andere Reisende anschließen in ferner Zukunft und dann auch wieder verlassen … doch irgendwann wird sie ausdünnen, wird sich verflüchtigen wie ein Gespenst in der Abenddämmerung, sich schließlich auflösen in einem Meer von Energie – Energie, aus der wir einst entstanden sind – wie auch ich. Was ist das für eine merkwürdige Gesellschaft, mit der ich reise, wo ist meine Stellung in ihr – woher kommt sie – wohin zieht sie – wie wird sie verschwinden – ja, warum gibt es sie überhaupt?

Das Rattern des Zuges bleibt eintönig – wird nur von Fahrten über Weichen unterbrochen – oft muss der Zugführer sich schnell entscheiden. Ich würde gerne Einfluss nehmen – es gelingt nur selten. Wie entscheidet er? Ich fluche, weil er mitunter, wie ich meine, die falschen Weichen ansteuert – Stunden später erst erkenne ich dann das tot gelegte Gleis.

Auch bitte ich ihn schon mal zurückzufahren – die Strecke war so schön – er weigert sich – es ginge nur vorwärts. Landschaften wechseln von faszinierend auf trüb, wie auch das Wetter: eitel Sonnenschein dann starke Gewittergüsse. Nur das Rattern der Räder bleibt konstant.

Menschen steigen hinzu, wollen länger bleiben – entschließen sich, mich zum Ziel zu begleiten – andere suchen ein anderes Abteil. Auch Kinder.

Beschwingt oder auch mal ächzend, geht es über Bergstrecken, hinunter in Täler, durch geheimnisvolle Wälder. Kurze Stopps.

Gegen Abend wird die Fahrt ruhiger – läuft der Zug seinem fernen Ziel zu? Noch unsichtbar. Aus dem Rattern der Räder ist ein kaum merkliches Summen geworden. Gleichmäßiger. Weichen werden kaum noch befahren. Ich genieße mit einigen die Abendsonne. Sie strahlt umgeben von rötlichen Wolken warm durch die Fenster. Sie verspricht laue Luft. Ein Windhauch kommt auf – er erinnert mich an den frühen Start, duftet aber so viel reifer, ausgewogener, voller Leben.

Mein Koffer wird leichter, habe weniger zu transportieren. Ich lese im Buch. Ein neues Kapitel – das Letzte? Es ruft mir ferne Zeiten her.

© Heinz-Dieter Brandt 2020-10-21

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