Zugreise mit Drache Teil 2

Laura Schäffner

von Laura Schäffner

Story

Nach einer Stunde, vielleicht war es auch ein bisschen mehr, sahen wir den Schaffner kommen. Ich war schon sehr gespannt darauf und hoffte wieder auf ein Bonbon, wie es eines auf der Hinfahrt gegeben hatte. Doch nun, da ich den Schaffner immer näher kommen sah, beschlich mich eine unangenehme Ahnung. Irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Während der Schaffner die Tickets der Personen neben uns kontrollierte, wurde mir auch schlagartig klar, was es war: der Drache hatte kein Ticket. Wir hatten völlig vergessen ihm eines zu kaufen. Seine Mitfahrt hatte so lange auf der Kippe gestanden, dass keiner von uns daran gedacht hätte, ihm noch ein Ticket zu besorgen. Jetzt wo ich so darüber nachdachte, war ich mir gar nicht sicher, was für ein Ticket wir hätten kaufen müssen. War der Drache ein Erwachsener? Oder doch ein Kind? Oder ein Haustier? Musste man für seinen Hund denn auch ein Zugticket kaufen? Ab welcher Größe musste man bezahlen? Noch bevor ich meinen Vater anstoßen konnte, um ihn zu wecken und zu fragen, war der Schaffner auch schon bei uns angekommen.

„Die Tickets bitte!“ Meine Mutter zeigte sie vor. „Und wer ist unser kleiner Mitfahrer hier?“, fragte der Schaffner und deutete auf den Drachen. Mir brach der Schweiß aus. Noch bevor irgendjemand etwas sagen konnte, stammelte ich los: „Wir haben ihn ganz vergessen. Und wir wussten auch gar nicht, welches Ticket für ihn gilt. Er ist ja ganz spontan mitgekommen und da hatten wir gar keine Zeit mehr.“ Der Schaffner lächelte. „Nun gut, wir wollen heute mal ein Auge zudrücken.“ Und das tat er dann tatsächlich. Er zwinkerte mir zu und ging weiter zur nächsten Gruppe. Ich konnte kaum glauben, dass wir so leicht davongekommen waren. Ich war so glücklich, dass ich mit meiner Schwester und dem Drachen einen kleinen Tanz veranstaltete. Im Lauf der weiteren Zugfahrt sprach sich irgendwie herum, dass in unserem Zugteil ein Drache ohne Ticket mitfuhr. Viele Kinder, aber auch viele Erwachsene kamen wie zufällig vorbei und wollten den Drachen mit eigenen Augen sehen. Ich stellte ihn jedem begeistert vor und erzählte, wie wir ihn in dem kleinen indischen Geschäft bei den Hackeschen Märkten kennengelernt hatten und ich beschlossen hatte, ihn mit nach Hause zu nehmen.

Auch wenn es nicht meine erste Zugfahrt war, so ist es doch die erste, an die ich mich wirklich erinnern kann. Den Drachen gibt es natürlich immer noch. Auch, wenn er leider nicht mehr bei mir wohnt. Als ich zum Studieren auszog, musste ich ihn zurücklassen. Meine Wohnung war einfach zu klein, um ihn darin bequem unterzubringen. Aber meine Mutter, egal, wie sie sich auch heute noch über die anstrengende Zugfahrt damals beschwert, hat ihn gerne adoptiert. Und auch wenn ich heute in einer größeren Wohnung lebe, so konnten sich die beiden nicht mehr voneinander trennen. Aber immer, wenn ich meine Eltern besuche, gehe ich auch zu ihm und streiche ihm einmal zärtlich über seinen Körper aus Holz.

© Laura Schäffner 2021-06-23

Hashtags