von Joana Oppermann
Ich greife gerade nach einer Packung Toast auf dem obersten Regalbrett, als mich eine bekannte Stimme aus meinem Gedankentunnel reißt. „Hallo Isi! Was für ein Zufall, dass wir uns hier treffen!“, singt sie förmlich. Oh nein. Ohne mich umzudrehen, weiß ich genau, wer hinter mir steht: meine Nachbarin. Dabei bin ich extra spät in den Supermarkt gegangen, in der Hoffnung niemandem begegnen zu müssen. Nach dem Reinfall gestern hätte ich gern für ein paar Tage auf menschlichen Kontakt verzichtet.
Toast, Kekse, Nudeln, Pesto, bezahlen und raus. Das war mein Plan, der nun leider von einer herzlichen Frau mit ergrauten Locken und dem Namen Maria durchkreuzt wurde. Meine Angst lugt misstrauisch unter dem Regal hervor. Sie umklammert meine Knöchel wie eine Fußfessel. Nicht antworten. Ignorieren. Weitergehen. So lauten ihre unmissverständlichen Befehle. Zu gern würde ich ihnen Folge leisten. Ich unterdrücke ein Seufzen und begrüße Maria mit einem Lächeln, so künstlich, dass es beinahe nach Plastik schmeckt: „Ach Maria. Wie schön.“
„Wie läuft’s mit dem Studium? Schon Karrierepläne geschmiedet?“, fragt sie mich und schlägt mir ins Gesicht. Zumindest fühlt sich ihre Frage an wie ein Faustschlag. Sie meint es gut, es ist völlig normaler Smalltalk, nichts weiter. Sie weiß ja nicht einmal, dass sie damit meinen wunden Punkt getroffen hat, aber mit jeder weiteren Sekunde bohrt sie ihren Finger tiefer hinein. Das Schweigen zwischen uns zieht sich wie Kaugummi. Was soll ich darauf antworten? Ich werde professionelle Versagerin? Berufs-Loserin? Ein lebender Misserfolg?
„Ähm … ja, es läuft gut, aber ich glaube, ich bin die geborene ewige Studentin“, antworte ich schließlich untermalt von einem viel zu übertriebenen, gespielten Lachen, damit sie merkt, dass meine Aussage offensichtlich als Witz zu verstehen ist. Was ganz und gar nicht witzig ist, ist der Ernst des Lebens, der nach dem Studium auf mich wartet. Ich habe Angst vor der Zukunft und davor, keine zu haben. Angst davor, dass mir keine so bunte, fröhliche und strahlende Zukunft bevorsteht, wie ich sie mir als Jugendliche stets ausgemalt habe. Angst davor, zu versagen und sowohl mein Umfeld als auch mich selbst gnadenlos zu enttäuschen. Ich will kein Loser sein. Die Gedanken an die ungewisse Zukunft schweben über meinem Kopf wie eine dunkle Gewitterwolke, die immer wieder unheilvoll donnert, um mich an ihre Existenz zu erinnern. Vor meinem geistigen Auge habe ich bereits 256 verschiedene Versionen meines zukünftigen Lebens durchgespielt. In allen davon bin ich ängstlich, unzufrieden, unglücklich und zum Scheitern verurteilt. Aber das alles kann ich ihr unmöglich sagen, obwohl mir die Worte wie ein Leuchtfeuer auf der Seele brennen. Sie verlangen, ausgesprochen zu werden, denn vielleicht lässt sich so die unsichtbare Last auf meinen Schultern verringern. Trotzdem überspiele ich meine Ängste mit einem schlechten Witz, ziehe die Mauer weiter hoch. Maria ist nicht die richtige Person und der Supermarkt definitiv der falsche Ort, um meine nagenden Existenzängste zu besprechen.
Und so schlucke ich die Worte, die auf meiner Zunge kleben, wieder herunter. Sie formen einen harten Klumpen in meinem Magen, der mir stechende Bauchschmerzen bereitet. Langsam klettert die Angst meine Beine empor. Ihre Krallen bohren sich durch den Stoff der ausgewaschenen Jeans in mein Fleisch.
„Ich muss dann auch weiter“, presse ich angestrengt zwischen den Zähnen hervor, „Bis bald, Maria.“
Schon wieder bin ich auf der Flucht.
© Joana Oppermann 2024-09-01