Zum Schlafen gehen die Wale an Land

Natalie Priebe

von Natalie Priebe

Story

Zu zweit schwebten sie im kühlen Salzwasser voran. Die anderen Wale belächelten ihr Vorhaben, am Abend einen Spaziergang durch die letzten wärmenden Strahlen der Abendsonne zu unternehmen, die in den Ozean eintauchten. Die beiden ließen sich jedoch nicht beirren. Sie schwammen genau über der Stelle, an der die Sonnenstrahlen sich selbst in den Wassermassen verloren, weil die beiden gerne darüber sinnierten, was mit dem Licht jenseits dieser Tiefe passierte. Für das Auge löste es sich zwar auf, doch die beiden konnten sich einfach nicht vorstellen, dass einzig das Wasser das Licht der Sonne gänzlich verschwinden lassen kann. Es war wie eine Geschichte, die sich die Wale jeden Abend erzählten – eine Geschichte vom unsichtbaren Licht und wo es hingehen könnte, ob sie ihm folgen sollten oder ob die Sonnenstrahlen vielleicht einfach umkehrten und zur Sonne zurückschienen. 

Sie wurde müde und fragte ihn, ob sie zu den anderen zurückkehren sollten, als er plötzlich stehen blieb. Sie fragte ihn, was los sei, doch er seufzte nur und schwieg für eine Weile. Nach einigen Minuten, die sie damit verbrachte, ihn gemächlich zu umkreisen, überwand er sich und erzählte ihr von einem Gedanken, der auf ihm lastete. Er beschrieb ihr, wie fürchterlich anstrengend er die Vorstellung fand, für den Rest seines Lebens schwimmen zu müssen, ohne jemals etwas Stillstand genießen zu können. Sie entgegnete, dass er doch immerhin schon seit mehreren Minuten auf der Stelle stand und das auch ziemlich still. Doch so meinte er das nicht. Denn um auf der Stelle stehenzubleiben, musste er trotzdem schwimmen, um nicht vom Strömen des Wassers fortgezogen zu werden. Er war müde vom vielen Schwimmen und vertraute ihr an, dass es ihn seit langem schon erschöpfte, immer und immer zu schwimmen und auch in der Nacht zu schwimmen und nach wenigen Minuten Schlaf immer und immer wieder an die Oberfläche zu schwimmen und Luft zu holen. Er träumte schon länger davon, sich in echtem Stillstand wiederzufinden, auszuschlafen und länger als einige Minuten ohne Unterbrechung träumen zu können. Sie betrachtete ihn mit großer Verwunderung, da sie nie bemerkt hatte, dass ihn das ewige Treiben im Meer so beschäftigte, denn schließlich gehörte das zu ihrer beider Natur. Sie wollte ihm widersprechen und davon erzählen, wie wundervoll es ist, in Bewegung zu bleiben, um an einem Ort zu verharren, doch dann bemerkte auch sie ein Erschöpfungsgefühl in sich aufsteigen. Sie hatte selbst nie hinterfragt, was es mit dem Schwimmen auf sich hat, doch als er seine Gedanken aussprach, säte das in ihr etwas, das über Empathie hinausging. Sie schien seine Müdigkeit physisch spüren zu können und wollte nun auch stehen bleiben – ganz dicht neben ihm. Sie schwamm an ihn heran und schmiegte vorsichtig ihren Kopf an seinen, doch entspannen konnte sie sich nicht, denn sie konzentrierte sich nun ganz bewusst darauf, wie ermüdend es eigentlich war, auf der Stelle zu schwimmen. 

Sie schaute ihn lange aus dem Augenwinkel an und dachte nach. Nach einiger Zeit fasste sie den Entschluss mutig zu sein und sagte mit sanfter Stimme: Lass uns heute Nacht an Land schwimmen und dort träumen. Gemeinsam. So lange, wie uns der Sinn danach steht, stehen wir einfach still. 

© Natalie Priebe 2024-03-12

Genres
Romane & Erzählungen