von AdaMea
Die Beschattung von Raphael Adler hatte meine Räume eingenommen – die inneren und die äußeren. Ich war gedanklich nur mehr bei ihm. Mittlerweile folgte ich ihm seit zwei Wochen auf Schritt und Tritt durch die Innenstadt von Wien. Er war mein erster Gedanke beim Aufwachen und der letzte, wenn ich schlafen ging. Noch nie hatte mich ein Fall so eingesogen und mit widersprüchlichen Gefühlen geflutet. Adlers Alltag verschmolz mit meinem und verwischte die Konturen der Realität. Ich wollte bei ihm sein. Bei allem, was er tat.
Während sich die Grenzen auflösten, die mich umgaben, tat ich nichts, um sie wieder aufzubauen. Es ging in diesem Leben nur darum, sich jeden Tag lebendig zu fühlen. Ich konnte nicht behaupten, dass ich es die letzten Jahre gewesen war. Von glücklich ganz zu schweigen.
Jeden Morgen trainierte ich im Fitnesscenter in Raphael Adlers Nähe. Ich musste ihn nicht aufdringlich anstarren, um mir seiner Gegenwart bewusst zu sein. Es war mehr ein Spüren und Baden in seiner Präsenz, die unheilvoll mächtig war. Immer wenn er sich nach mir umdrehte, wandte ich das Gesicht ab. Obwohl eine Maskerade meine Identität verbarg, schlug unter der Oberfläche mein verletztes Herz. Ich wollte es nicht mehr verlieren. An niemanden.
Adler folgte an Werktagen seinen Routinen. Er liebte es, nach dem Sport im schwarzen Kameel einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen. Ich wartete stets geduldig an der Ecke, bis er weiter ĂĽber den Graben in sein BĂĽro ging. Dann folgten die Stunden, in denen wir getrennt waren und ich an den Protokollen fĂĽr seine Ehefrau schrieb.
An diesem Morgen jedoch war alles anders. Ich wusste nicht, woher der Impuls kam, aber es zog mich in das schwarze Kameel, wo ich an der Vitrine neben Adler stehenblieb und die Auswahl an Delikatessen studierte. Es duftete nach Kaffee und frischen Croissants. Die Kellner bedienten die Gäste an den Tischen.
Während Adler darauf wartete, dass seine Brötchen auf einen Teller gelegt wurden, musterte ich sein Seitenprofil. Er wandte sich mir zu und blickte mich direkt an. Es war zu spät, um mich aus seinen Augen zu befreien. Ich stürzte in das tiefe Blau, in dem sich die Geheimnisse bis auf den Grund rankten.
„Sie sind mir aufgefallen“, sagte Raphael Adler. „Ihr Training ist genauso hart wie meines. Wollen Sie sich zu mir setzen und zusammen frühstücken?“
Mir wurden die Knie weich. Ich hatte auf eine Einladung gewartet, ohne mir dessen bewusst zu sein.
„Ich habe leider keine Zeit“, erwiderte ich und hoffte, dass es bedauernd klang.
„Keine Zeit“, wiederholte er leise.
Sein Blick dachte nicht daran, mich wieder loszulassen. Er fesselte mich.
„Ein Termin jagt den nächsten“, erklärte ich ihm mit heiserer Stimme.
„Dann werde ich mich wohl noch etwas gedulden müssen.“
Sein Lächeln war weit und wunderschön. Er nahm seinen Teller und ging davon.
Falls er die Absicht hatte, das Spiel umzudrehen, würde ich ihn enttäuschen müssen.
Geduld war eine meiner Stärken und ich hatte den starken Willen einer Löwin, den noch nie jemand gebrochen hatte.
© AdaMea 2024-03-16