Zusammen alleine Zug fahren

Marianne Frank

von Marianne Frank

Story

Ich steige heute am frĂŒhen Nachmittag in ZĂŒrich in den Zug und sage somit: GrĂŒezi aus der Schweiz! Stolze 8 Stunden werde ich nun im Zug verbringen, bis ich spĂ€tabends hoffentlich pĂŒnktlich in Wien ankommen werde. Der Grund meiner Reise verdient eine eigene Story und wird selbstverstĂ€ndlich nachgereicht.

Ich reise heute alleine. Alleine zu reisen bedeutet fĂŒr mich auf der einen Seite, mehr bei mir zu sein. Ich kann tun und lassen, was ich möchte. Ich liebe es, wĂ€hrend der Fahrt aus dem Fenster zu schauen, die Landschaft und mit ihr meine Gedanken mal schneller, mal langsamer an mir vorbeiziehen zu lassen. Manchmal geraten beide ins Stocken, dann gleiten sie wieder beinahe lautlos durch die Gegend. Gleichzeitig bin ich viel aufmerksamer, was meine Umwelt und die Menschen um mich herum betrifft, als wenn ich mit jemandem im Zug sitzen wĂŒrde, den ich kenne und der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Diese flĂŒchtigen Kontakte und Begegnungen, die Beobachtungen und das zwangslĂ€ufig Belauschte wĂ€hrend einer Zugfahrt betrachte ich heute auch mit schriftstellerischem Interesse.

Mir gegenĂŒber sitzt die lĂ€ngste Zeit eine junge Frau, die jeden ausgiebig, ja beinahe aufdringlich, mustert. Ich habe natĂŒrlich keine Ahnung, was sie sich dabei denkt. Aber ich fĂŒhle mich beobachtet, vielleicht sogar bewertet. Es ist eine ganz eigene Situation, einer wildfremden Person ĂŒber Stunden gegenĂŒberzusitzen, kaum ein Wort miteinander zu wechseln und sich dennoch regelmĂ€ĂŸig auf so kurze Distanz mit Blicken zu begegnen. Man kann eben nicht nicht mit den Menschen um sich herum in Kontakt treten, wenn man sich auf so engem Raum miteinander befindet.

Die Landschaft rauscht an mir vorbei, ein Wolkenbruch empfĂ€ngt uns in Tirol, strahlend lacht die Sonne ĂŒber Bayern und Salzburg heißt uns kurz nach 20 Uhr mit wunderschöner Abendstimmung und jeder Menge neuer FahrgĂ€ste willkommen. Ja, die ZĂŒge sind voll in Zeiten hoher Benzinpreise und der Frage nach dem eigenen ökologischen Fußabdruck.

Was habe ich eigentlich fĂŒr ein GlĂŒck, in diesem wunderschönen Land zu leben, denke ich mir, wĂ€hrend ich Mutter und Sohn schrĂ€g gegenĂŒber seit Stunden beim Mathematik lernen zuhöre. Die Geduld und das BemĂŒhen der Mutter rĂŒhren mich, dennoch habe ich nach einiger Zeit genug gehört. Manchmal hilft nur: Kopfhörer in die Ohren und alles andere ausblenden.

Ich beschließe, mir im Speisewagen einen Kaffee zu holen. Der VerkĂ€ufer schenkt mir ein freundliches LĂ€cheln und da erst bemerke ich, wie lange ich schon niemandem mehr im Zug habe lĂ€cheln sehen. Was auch immer diese letzten 2,5 pandemischen Jahre mit uns gemacht haben, ich spĂŒre sofort, was fĂŒr einen Unterschied ein kleines LĂ€cheln machen kann.

Nach einem wunderschönen Sonnenuntergang in Oberösterreich gleiten wir durch die Nacht und kommen gegen 22:30 Uhr beinahe pĂŒnktlich in Wien an. Ich habe viel gesehen und gehört, bin jetzt hundemĂŒde und verabschiede mich daher mit einem herzlichen „Baba aus Wien”.

© Marianne Frank 2022-06-06

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